Sean King 04 - Bis zum letzten Atemzug
gegenüber.
Sie hing die Lampe an den Türgriff, sodass ihr Arbeitsbereich beleuchtet war. Dann schob sie die Stiftklammer hinein, drehte sie wie einen Schlüssel und übte so gerade genug Druck aus, dass die inneren Bolzen nicht wieder zurückrutschten. Anschließend schob sie das zweite Werkzeug mit der anderen Hand in den oberen Teil des Schlosses. Sie wandte so viel Kraft auf, dass ihr trotz der Kälte im Raum der Schweiß über die Stirn lief. Einmal rutschte sie ab, und die Klammer löste sich.
Willa steckte sie wieder hinein und versuchte es erneut. Sie hatte diese Handgriffe zu Hause viele Male geübt, hatte aber nie sagen können, wie lange es dauerte. Sie war keine Expertin, und so fehlte es ihr an Gefühl für den Druck der Bolzen. Es konnte Minuten oder auch Stunden dauern. Willa betete, dass es nur Minuten waren.
Als sie Schritte hörte, die näher kamen, erstarrte sie. Sie drehte das Handgelenk, schaute auf ihre Uhr. Es waren erst zwanzig Minuten vergangen. Kam der Mann zu ihr? Der alte Mann, der so sanft sprach? Und doch fühlte sie seinen Zorn und wusste, wie gefährlich er war. Nein, das war nicht sein Schritt. Das war einer der anderen Männer. Willa zog ihre Werkzeuge heraus und wollte gerade zu ihrem Bett zurückfliehen, als die Schritte verhallten. Trotzdem wartete Willa noch, um sicherzugehen.
Schließlich machte sie sich wieder ans Werk, diesmal mit doppelter Konzentration. Jetzt spürte sie, wie die Bolzen von ihrem selbstgemachten Dietrich abglitten. Einen nach dem anderen hob sie sie hoch und hielt dabei die Klammer so fest, dass ihre Hand zu schmerzen begann.
Dann fiel der letzte Bolzen zurück. Willa zog den Hebel heraus und drehte die Klammer wie einen Schlüssel. Der Riegel wurde zurückgezogen. Willa atmete tief durch und sprach ein stummes Gebet. Sie drehte die Lampe auf die niedrigste Stufe hinunter, lauschte aufmerksam und öffnete die Tür.
Dann wartete sie ein paar Augenblicke und verschwand in der Dunkelheit.
28.
S ean nippte an seinem Kaffee und beobachtete den Eingang des Apartmenthauses durch die Linse seiner Kamera. Es war ziemlich warm in Jacksonville, sodass Sean sein Jackett ausgezogen, auf den Beifahrersitz seines Mietwagens geworfen und die Klimaanlage hochgedreht hatte. Von hier aus war der Parkplatz des Apartmenthauses trotz des Zaunes davor gut einzusehen.
Eine Minute später setzte Sean sich auf und legte den Gang ein. Sein Ziel war soeben aus der Glastür des Gebäudes gekommen und hatte sich einen Moment Zeit genommen, sich die Designersonnenbrille zurechtzurücken. Sean fiel sofort auf, wie aufreizend Cassandra Mallory gekleidet war. Sie trug einen Minirock, High Heels und ein Tanktop mit einem derart tiefen Ausschnitt, dass kaum noch Raum für Fantasie blieb.
Cassandra drückte auf ihren Autoschlüssel; das typische Piepen ertönte, und sie stieg in ihren Wagen. Als sie sich in ihr Mercedes-Cabrio setzte, genügte ein leichter Windstoß, um zu zeigen, dass sie unter dem Minirock nur einen weißen Stringtanga trug. Sie drückte einen Knopf auf dem Armaturenbrett, und das Metalldach wurde automatisch zurückgefahren.
Dann jagte sie mit wehender Mähne los und gab dabei ein Bild ab, das die deutschen Hersteller ihres Wagens in jedem Werbespot hätten zeigen können. Sean fuhr ihr hinterher.
Cassandra hielt zuerst an einer Wäscherei, dann an einer Apotheke. Vielleicht hat sie sich die Pille geholt, überlegte Sean, während er sie von der anderen Straßenseite aus beobachtete.
Dabei konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen, denn die Frau wusste ihre Reize wahrlich einzusetzen. Wo immer Cassandra hinging - und sie konnte gehen -, gafften die Männer. Wenn sie in einen oder aus einem Wagen stieg, geschah es wie in Zeitlupe, und all die Dinge, die Männer des Nachts zum Schwitzen bringen, waren einen schier unendlich langen Augenblick zu sehen. Wenn sie langsamer ging, schienen auch sämtliche Männer langsamer zu werden. Und dann war einen Moment lang alles wie erstarrt, bis die gebräunten Beine, der perfekte Po und der verführerische Ausschnitt davonrasten, fortgerissen von brutaler Mercedes-Kraft.
Ihr nächstes Ziel, eine exklusive Wohngegend, war schon vielversprechender. Sean beobachtete, wie sie in die Einfahrt eines prachtvollen, stuckverzierten roten Hauses mit Palmen vor der Tür fuhr. Mit Hilfe des Zoomobjektivs seiner Kamera konnte Sean erkennen, wer Cassandra die Tür öffnete. Der Mann war groß und elegant, mit dichtem, leicht ergrautem
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