Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman
mein Opa dorthin muss, um der Zugwache ein Päckchen mitzugeben. Und ich hab mich verirrt, hier sieht ja alles so egal aus.«
»Nicht für jeden«, prahlte der junge Kerl. »Du hast Glück, wir haben heut früh da gearbeitet. Geh in die Richtung, aus der ich komme, bis zur Druckwasserpumpe. Zwischen den Gleisen wirst du eine Säule mit Trinkwasserhähnen sehen. Rechts davon stehen dieZüge nach Swerdlowsk. Geh vorsichtig über die Gleise, da rollen Waggons ab.«
In den damaligen Zeiten standen auf fast allen bedeutenden Bahnstationen Russlands, vorn oder hinten, zwischen den Gleisen Trinkwassersäulen. Sie hatten eine kleine Nische mit zwei Hähnen, der eine für kaltes, der andere für heißes Wasser. Diese Säulen waren ursprünglich für die Rangierarbeiter gedacht. In der Nische befand sich außer den Wasserhähnen ein großer Metallbecher, mit einer starken Kette an der Säule befestigt, damit Durstige ihn nicht mitsamt dem Wasser mitnehmen konnten. Zu diesen Säulen eilten aus den haltenden Zügen Reisende mit Teekesseln, Flaschen, Karaffen. Oft mussten sie Schlange stehen. Nach einem ungeschriebenen Gesetz holten Bullen und Schaffner ihr Wasser außer der Reihe.
Die Güterwagen des Zugs nach Swerdlowsk waren leer, aber mit Vorhängeschlössern zugesperrt. Ich fand mein rollendes Versteck von der anderen Seite, da war ein Fensterchen, dessen Gitterstäbe jemand auseinander gebogen hatte, und ich war damals klein und mager. Wenn aber irgendwelche Natschalniks das Vorhängeschloss öffneten und die Tür aufschoben, saß ich in der Falle. Durch das Gitterfenster kam ich so schnell nicht wieder raus … Solche Gedanken machten mich ganz verzagt. Ich konnte nur auf mein Glück hoffen und zum lieben Gott beten, der Zug möge bald abfahren. Das tat er auch – Gott hatte mich erhört. Die Pufferteller knallten und bellten, die lange Schlange der Waggons rollte rückwärts, dann gab es einen Ruck, und es ging vorwärts, die Räder ratterten, der Zug fuhr. Ich linste durchden Türspalt und sah Tscheljabinsk entschwinden – die Bahnhofsgebäude, die Signalmasten, die Blockwärterhäuschen, die Brücken. Nach einiger Zeit, ich hatte meinen kümmerlichen Proviant verzehrt, entschlummerte ich auf dem spärlichen Stroh im Waggon. Im Traum sah ich den blinden Mitja durch den Personenzug gehen und sein klägliches Lied singen:
In dem Tal, im grünen Garten,
schallt der Schlag der Nachtigall.
Ich, verlassen in der Fremde,
bin alleine überall.
Um diese Zeit wurde ich allmählich zu einem Jungtier, das seinem Käfig entflohen war. Ich konnte Gefahren wittern. Bei jedem
verdächtigen Rascheln wachte ich auf. Ansiedlungen konnte ich schon von weitem riechen, Menschen auch. Böse Menschen hatten
einen besonderen Geruch, einen schlechten. Kurz und gut, ich wurde zu einem Spürhund.
Staatseigene Ware
Mehrere Stationen mit Namen, die für mein halbpolnisches Ohr schwierig waren – Argajasch, Bisheljak, Kyschtym, Mauk, Ufalej –, brachte mein Güterzug fast ohne Halt hinter sich, doch
ein paar Abenteuer gab es.
Wir hielten zwecks Nachrüstung der Lokomotive in der Siedlung Kyschtym (der Name mit den zwei ungeliebten Y hat mir lange Mühe gemacht). Ich beschloss,vorsichtig aus meiner Höhle rauszuklettern und Heißwasser zu holen, um in dem Kochgeschirr, das die Soldaten mir geschenkt hatten, den in Tscheljabinsk stibitzten Tee zu bereiten. Ich schlüpfte auch flink und unbemerkt durch das Fensterchen und zog das Kochgeschirr an der Schnur nach.
Auf dem Weg zur Wassersäule, zwischen den Güterzügen hindurchtappend, bot sich mir plötzlich ein überraschender Anblick: Der Bahnkörper und teilweise auch der Gleiszwischenraum war dick mit Weizenkörnern bedeckt. Auf diesem zufälligen Futterplatz weideten ganze Schwärme von Spatzen, Krähen, Elstern und Dohlen. Zahlenmäßig am stärksten vertreten waren die Spatzen. Wahrscheinlich war an dieser Stelle ein durchfahrender Güterwaggon, mit Getreide beladen, ins Schlingern geraten und hatte das Bahnhofsgelände mit dem wertvollen Futter beglückt. Auf diese Vogelarmada zu fuhr langsam rückwärts ein Zug aus Stolypin-Wagen * mit vergitterten kleinen Fenstern, aus denen kahlgeschorene Frauenköpfe mit hungrigen Augen auf das Festmahl der Vögel starrten. Ich kapierte nicht gleich, was für ein Zug das war. Erst als ich im offenen Vorraum des letzten Waggons bewaffnete Wächter stehen sah, ging mir ein Licht auf.
Der Zug, der mir entgegenkam, war beladen mit
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