Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman
bei uns, was für Lungenkranke wichtig sei.
Das nächste Wiedersehen kam erst Anfang März zustande, schon im Blindenheim, in das Mitja vom Krankenhaus verlegt worden war. Ich brachte ihm Zucker und Butter mit, Geschenke, die ich mir teils abgespart, teils gegen selbstgezeichnete Karten eingetauscht hatte. Er wollte sie erst gar nicht nehmen. Mitja stellte mich seinen blinden Zimmergenossen als seinen jüngeren Bruder vor, dabei war er nur ein Jahr älter als ich. Er schien sich nicht schlecht zu fühlen, aber er sah seltsam blass und mager aus. Wir beide schworen einander, im Juni zusammen aus Tscheljabinsk in unsere nordwestliche Heimat zu fliehen und schon jetzt mit den Vorbereitungen anzufangen.
Als ich Ende Mai das zweite Mal in Begleitung eines Wachmanns in sein Heim kam, fragte der alte Wächter mit dem verräucherten Budjonny * -Schnauzbart, zuwem wir wollten. Ich sagte, zu meinem blinden Bruder, dem Sänger Mitja. Da runzelte er die zottigen Augenbrauen.
»Dein blindes Jungchen hat dieser Tage seinen Geist ausgehaucht«, krächzte er, »seine Lunge war voller Löcher, so ist das, mein kleiner Freund.«
Das traf mich wie ein Keulenschlag, ich hockte mich hin und konnte lange nicht aufstehen noch mich irgendwie bewegen. Sein Tod war der erste schreckliche Kummer in meinem Leben. Ich wusste lange nicht, wie ich weiterleben sollte.
Nach ein paar Tagen brachte mir ein Wachmann Mitjas Schaffellweste mit einem Zettel, den jemand für ihn geschrieben hatte: »Für Eduard zum Wärmen. Dein Mitja.«
Im Juni klaute ich bei der Wäscheverwalterin meinen Rucksack, Geschenk des Chanten, und floh, nun wieder allein, nach Westen, in meine Blockade-Stadt. An mein rechtes Bein hatte ich das Säckchen mit den Zugschlüsseln gebunden, das Erbe der sibirischen Eisenbahndiebe. Und in den Hosentaschen hatte ich zwei genau abgemessene Knäuel Kupferdraht. In der rechten für das Profil Stalins, in der linken für das Lenins. Ich konnte sie schon mit geschlossenen Augen biegen.
Dritter Teil
IM KNAST GESTÄHLT
Wo die Mutter ist, ich weiß nicht.
Sie war lang nicht für mich da.
Dichtes Gras ist meine Mutter,
Wind und Feuer mein Papa.
Lied der Waisenkinder
Wieder auf der Flucht
Mit der Flucht aus dem Tscheljabinsker Kinderheim begann für mich ein neues Leben in den Weiten des Vor-Ural-Landes, unter lauter fremden Menschen. Ich floh allein, ohne mich mit irgendwem abgesprochen zu haben, und nahm die wehmütige Erinnerung an meinen ersten Kumpel mit – den blinden Mitja. An einem warmen Maitag kletterte ich durchs Fenster der schulbaracke. Die wenigen Habseligkeiten und den gesparten Proviant, den ich brauchte, hatte ich in unserm Ofen verkutet. Der würde für mehr als drei Tage reichen. Die Eisenbahnschlüssel hatten unter dem Eckstein des alten Hauses wohlbehalten überwintert.
Ich bewegte mich erst mal Richtung Bahnhof, umging ihn aber und gelangte auf die Gleise. Denen folgte ich bis zu dem Bereich, wo die Güterzüge zusammengesetzt wurden. Ich musste einen Zug finden, der nach Norden fuhr, nach Swerdlowsk oder Perm (Molotow). Auf den Gleisen standen unzählige Waggons. Welcher wohin bestimmt war, konnte ich nicht feststellen, ich musste jemanden fragen, aber vorsichtig, hintenrum, um nicht verdächtigt zu werden, ich könnte von irgendwo abgehauen sein. Meine Personenbeschreibung war bestimmtschon an alle Bahnknotenpunkte verschickt worden. Aus der Karte, die in der Schule hing, wusste ich, welches die letzten Bahnhöfe im Gebiet Tscheljabinsk waren, nämlich Kyschtym, Mauk und Ufalej. Dort musste ich möglichst schnell hin. Es war nämlich so, dass ein Ausreißer, solange er sich auf Tscheljabinsker Territorium befand, dessen Eigentum blieb. Hatte er aber die Gegend von Swerdlowsk oder Molotow erreicht, so würde er zwar auch wieder ins Kinderheim gebracht, doch schon weiter nördlich, näher an Piter.
Ich trieb mich zwischen den Waggons herum und hoffte, jemanden zu treffen, der mir helfen konnte. Plötzlich erblickte ich einen jungen Kerl mit Eisenbahnermütze, fünf oder sechs Jahre älter als ich; er trug eine Kanne heißes Wasser und war wohl von seiner Arbeitsbrigade danach geschickt worden. An ihn pirschte ich mich heran.
»Onkelchen«, fragte ich höflich, »können Sie mir sagen, wo die Züge nach Swerdlowsk und Molotow zusammengestellt werden?«
»Ich bin nicht dein Onkelchen«, sagte er empört, doch schien meine ehrerbietige Anrede ihm gefallen zu haben.
»Entschuldigen Sie, ich frage, weil
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