Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman
das Obszönvokabular von klein auf erlernte.
Für die Mitschrift in den Unterrichtsstunden und für die Hausaufgaben in allen Fächern bekam ich ein dickes Kontorbuch mit festem Pappeinband, der sich nicht abnutzte. Dieses Buch hatte, von vorn oder von hinten aufgeschlagen, Unterteilungen für die verschiedenen Fächer. Von vorn schrieb ich im Unterricht, von hinten machte ich die Hausaufgaben. In diesem Buch war viel Platz für Zeichnungen vorgesehen, und ich entwarf – für Kartenspiele – Könige, Damen, Buben und skizzierte auch die sowjetischen Führer, um für mein späteres Leben zu üben.
Im Frühjahr, als die Schule zu Ende ging und die Zeit der Flucht nahte, übergab ich diesen Schatz meinen zurückbleibenden Kumpels.
Die »russischen« Deutschen
Ein Ereignis im Tscheljabinsker Kinderheim hat sich mir besonders eingeprägt. Irgendwann nach den Novemberfeiertagen mussten wir zusammenrücken. In jeden der ohnehin engen Schlafräume wurden weitere Pritschen gezwängt, so dass die Gänge praktisch verschwanden. In zwei freigeräumte Zimmer wurden Metallbetten gestellt. Der Korridor zum Treppenhaus wurde mit einer Sperrholzwand abgetrennt, in die eine Tür eingebaut war. Lange wussten wir nicht, was diese einschneidenden Vorbereitungen bedeuteten. Dann kam das Gerücht auf, da sollten kriegsgefangene Deutsche einziehen, Kinder wie wir, nur eben Faschisten. Ich weiß noch, dass diese Gerüchte uns gar nicht gefielen. Warum sollten Feinde unsere Schlafräume bekommen, und warum sollten wir, die Sieger, so beengt leben?
Und richtig, Ende November fuhren bei unserm Heim zwei Autobusse vor, und Wachleute führten eine ganze Schar magerer kleiner Jungs und Mädchen mit verängstigten Gesichtern zu uns herauf. Wir standen alle dicht gedrängt im Korridor und sahen zu, wie die Wache die kleinen Faschisten abzählte und deren nichtrussische Namen aufrief. Aber seltsam, alle diese deutschen Jungen und Mädchen sprachen ausgezeichnet russisch. Wo sie das so schnell gelernt hatten war unbegreiflich. Selbst ich hatte, als ich vom Polnischen zum Russischen überging, zwei Jahre lang herumgestottert. Wir löcherten unsere Erzieher Dumm und Oberdumm, und die erklärten uns, die kleinen Deutschen seien keine Faschisten, sondern quasi russische Deutsche, so ähnlich wiedie russischen Polen, die russischen Finnen, die russischen Griechen, die russischen Juden und die sonstigen Fremdstämmigen in Russland. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen seien ihre Eltern nach Kasachstan verbannt worden, und die Kinder würden demnächst auch dorthin geschickt werden.
Wir durften mit ihnen keinen Kontakt haben. Sie hatten ihre eigenen Bewacher, die brutaler waren als unsere. Sie wurden getrennt von uns verpflegt und viel schlechter. Wir waren gespalten – die einen hatten Mitleid und steckten ihnen sogar was zu essen zu, die anderen verhöhnten sie. Ohne die Bewacher wären diese Kinder bestimmt verprügelt worden. Der picklige Pachan, genannt der Hammer, und ein Kumpan versuchten sogar, im Brennholzschuppen ein deutsches Mädchen zu vergewaltigen, nachdem sie es während eines Spaziergangs entführt hatten. Die Kleine schrie um Hilfe, und die Bewacher stoppten die Sittenstrolche noch rechtzeitig.
Die Bestrafung der Triebtäter vollzog der allmächtige Oberst gleich im Hof. Er packte den einen mit der Linken, den anderen mit der Rechten am Kragen, hob sie hoch und ließ ihre Stirnen gegeneinander krachen. Die so Bestraften mussten eine Woche lang in der Krankenabteilung von den beiden Pipetten kuriert werden, danach wurden sie zur weiteren Behandlung in eine Arbeitskolonie geschickt.
Anfang Mai wurden die deutschen Jungen und Mädchen von uns weggeholt und nach Osten gebracht. Wir standen wieder alle im Korridor und verabschiedeten die Fremden bereits wie welche von uns. Viele von ihnen, warum auch immer, weinten beim Abschied.
Mitjas Tod
Meinen Freund Mitja, nach dem ich mich schrecklich sehnte, konnte ich das erste Mal Ende November besuchen. Mit größter Mühe hatte ich den Oberst überredet, mich mit einem Bewacher ins Krankenhaus zu meinem blinden Freund gehen zu lassen. Wir freuten uns beide sehr über das Wiedersehen. Er fühlte sich nach der zweimonatigen Behandlung besser. Zu meinem Kummer aber erfuhr ich von ihm, dass er nach der Entlassung nicht zurück zu uns, sondern in ein Heim für blinde Kinder kommen würde, um dort in einer Sonderschule unterrichtet zu werden. Die Verpflegung dort würde viel besser sein als
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