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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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knastgestählter staatseigener Menschenware.
Der Chinese
    Gegen Morgen des nächsten Tages hielt mein Zug auf einem Bahnknotenpunkt. Ich guckte durch die Ritze, konnte aber, noch dazu schlaftrunken, wie ich war, nichts erkennen. Aber ich witterte Gefahr. Von draußen hörte ich Kühe muhen, Hufe trappeln und eine Peitsche knallen. Da beschloss ich, schleunigst aus meinem rollenden Knast abzuhauen. Und meine Witterung hatte mich nicht getrogen. Auf den Zug, auch auf meinen Waggon, wartete eine Herde gehörntes Großvieh. Die Station hieß Ufalej, die letzte, die ich mit dem Tscheljabinsker Güterzug erreichte. Hier hätte ich sowieso aussteigen müssen, denn meine Essvorräte aus dem Kinderheim waren alle. Um Nahrung zu beschaffen, ging ich zum Bahnhof.
    Als ich auf dem Bahnsteig einen Polypen stehen sah, machte ich einen Umweg durch die Siedlung und gelangte auf den Markt. Damals führten in den russischen Siedlungen alle Straßen auf den Trödelmarkt. Dieser hier war halbleer, ungemütlich und bedurfte meiner Künste nicht. Ich musste etwas unternehmen. Hunger tut weh. Ob ich im Restaurant meine Drahtführer bog? In Sibirien hatte das geklappt. Ich musste rauskriegen, wo das Restaurant war. Die Marktweiber im Vor-Ural-Land waren böse, unfreundlich, die brauchte ich nicht zu fragen, die riefen womöglich die Bullen. Am andern Ende des Markts entdeckte ich den einzigen Mann unter all den Weibern und ging zu ihm. Es war ein schlitzäugiger Alter, der wie ein Kasache aussah. Und am interessantesten – er verkaufte buntbemalte Glasrahmen für Fotos und Blumenbilder, die gleichfalls auf Glas gemaltwaren. Sein Stand versprühte nach allen Seiten überraschende Farbkontraste und strahlte eine märchenhafte Energie aus, so dass ich ganz perplex stehen blieb. Ich vergaß meine Frage und konnte mich nicht losreißen von der Herrlichkeit. Wie aufregend: Er setzte zerknittertes silbernes und goldenes Bonbonpapier in die bunten Flecke der Blumen und umrandete das Ganze mit schwarzer Farbe. Das möchte ich lernen, dachte ich.
    »Na, was kuckst du, Kleinel?«, fragte der Onkel mit einem Altweiberstimmchen und fremdem Akzent. »Was gefällt dil am besten?«
    »Alles gefällt mir. Die Blumen da sind irre schön gemalt.« Ich zeigte auf ein Glasbild. »Solche Märchenblumen hab ich noch nie gesehen. Wo hast du die her?«
    »Chinesisch sind die.«
    »Bist du ein Chinese?«
    »Ja, bin ich.«
    »Ich seh zum ersten Mal einen lebendigen Chinesen. Bisher kenn ich nur Mao Tse-tung, euern Führer, von Bildern und Porträts. Onkel, willst du mir nicht beibringen, mit Farben zu malen? Tuschen kann ich schon, kuck hier, das Gebetbuch.« Ich nahm das Spiel Karten aus der tasche, das ich im Tscheljabinsker Kinderheim gezeichnet hatte, und reichte es dem Chinesen.
    Er betrachtete die Karten, schnalzte mit der Zunge.
    »Ssön … ssön … Bei uns gibt’s Kalten nicht zu kaufen. Ssön …«
    »Wenn du mir beibringst, die Karten bunt zu malen, könnt ich sie zeichnen und farbig machen, und wir würden schön Geld verdienen.«
    »Bist du denn allein hiel?«
    »Ja, ich will zu meiner Mutter nach Leningrad. In Sibirien und in Tscheljabinsk war ich im Kinderheim. Bring’s mir bei, und ich werd dein Gehilfe, dein Lehrjunge.«
    »Gut, gut, muss ich mil übellegen. Komm molgen, dann leden wil.«
    »Wohin?«
    »Hiel auf den Malkt. Ich muss mich mit meiner Flau Sjaska belaten.«
    »Gut, morgen komm ich wieder.«
    Er zeigte mir, wo es zum Restaurant ging. Mein Besuch dort brachte aber wenig. Die Murmeltiere, wie die hiesigen Ural-Menschen von den anderen genannt wurden, hatten für meine Führer in Draht keinen Sinn. Ich musste für was zu essen mein letztes Kartenspiel hergeben. Als ich mich in einem vergessenen Güterwagen auf einem Abstellgleis auf Stroh schlafen legte, beschloss ich, bei dem Chinesen in die Lehre zu gehen, wenn er mich denn nahm, und meine Flucht bis zum August zu unterbrechen.
    Tags darauf wurde ich mit Zustimmung von Sjaska, eigentlich Anastasia Wassiljewna, Gehilfe des chinesischen Künstlers. Der Meister nahm mich mitsamt meinem ärmlichen Rucksack mit in sein weißblaues Haus, das einzige farbige in der düsteren grauen Straße unweit des Marktes, und quartierte mich in seiner Werkstatt ein – einem kleinen Schuppen. Vor einem Fensterchen stand der Arbeitstisch, auf dem er seine Bilder produzierte. Unter der Tischplatte hatten Kästen mit Farben, Pinseln, Papier und Pappe ihren Platz. Links von der Tür befand sich der Tisch, auf

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