Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman
scheinbaren Kälte der Gütigste. Dem hochgewachsenen, kräftigen alten Mann hatten die vorbestraften älteren Jungen den sonderbaren Spitznamen Japonamat gegeben, denn wenn er schimpfte, benutzte er nur dieses Wort. Als ich im Heim noch neu war, erzählten mir meine Zimmergenossen über den alten tomas eine Menge wundersame Geschichten, die ich anfangs überhaupt nicht glaubte.
Der Alte trug keine Hemden, nur Pullover mit Rollkragen. Darüber zog er ein Sakko oder eine Weste. Die älteren Jungs gaben zum Besten, dass unter dem Pullover phantastische, märchenhafte Tätowierungen verborgen seien, mit farbiger Tusche von richtigen japanischen »Banzais« 8 gestochen.
Es ging die Legende, er habe in Japan gelebt, in einem Heim wie unserem, aber für Kriegsgefangene. Solch eine Verbindung – ein Este, der in Japan gelebt hatte – interessierte mich brennend. An Märchen von den Tätowierungen glaubte ich nicht, die Jungs wollten mir Neuling bestimmt einen Bären aufbinden. Ich wettete sogar mitden Kumpels um ein Frühstück und ein Abendessen, dass das alles Spinnerei wäre. Aber nach anderthalb Monaten verlor ich die Wette. Sie hatten mich nicht auf die Schippe genommen. Ich weiß nicht mehr, warum, aber an einem Donnerstag begleitete uns außer Tylytsch auch Tomas Karlowitsch ins Dampfbad. Meine Zimmergenossen stürzten sich auf mich.
»Na, Schatten, du hast verloren, jetzt kriegst du gleich Kino zu sehen, ein wandelndes Museum, von dem du nicht mal träumen kannst.«
Was Kino war, konnte ich mir vorstellen nach dem, was Augenzeugen erzählt hatten, aber was das rätselhafte Wort »Museum« bedeutete – keine Ahnung. Auch die Jungs dürften es kaum gewusst haben, sie hatten es nur gehört von den Erziehern und den Wächtern, die sich über den alten Wäscheverwalter ausließen.
Im Vorraum des Dampfbads bekamen wir für alle zusammen fünf große Schöpfkellen, Seife und drei Bastwische. Danach hieß es, sich schnell ausziehen.
Tylytsch glotzte.
»Was steht ihr rum, ihr Rotzlöffel, los, einseifen!«
Der alte Tomas kam nach fünf Minuten herein, als wir eingeseiften Bengels uns um die Kellen rauften.
Die Kumpels stießen mich an.
»Na, Schatten, nun mach deine Glubscher auf und kneiste und denke an das heutige Abendessen.«
Ich ließ sie quasseln, hörte gar nicht hin. Meine Glubscher klebten an der entkleideten Gestalt des Alten – er war vom Hals bis zu den Knöcheln mit phantastischen bunten Zeichnungen bedeckt. Anfangs bekam ich sogar einen Schreck, denn sie bewegten sich, das heißt, beijeder noch so kleinen Drehung des Körpers wurden sie lebendig. Da kämpften zwei überirdische Schwertkämpfer in fremdartiger Kleidung miteinander. Zwischen ihnen bäumten sich feuerspeiende Drachen. Auf der Brust thronte mit zusammengelegten Händen ein großer Glatzkopf, und vor ihm knieten viele kleine Leutchen, ebenfalls mit zusammengelegten Händen. Die Tattoogruppen waren voneinander getrennt durch Wolkenketten. Mit Worten zu beschreiben, was ich auf dem Körper des Alten sah, ist ganz unmöglich. Es war ein Eindruck jenseits aller Vorstellungskraft. Ich versteinerte. Buchstäblich jeder Zentimeter seiner Haut war bearbeitet.
»Na, Schatten, wie gefällt dir das Museum?«
»Das reinste Kino, nich?«
»Kuck, die Beine – siehst du, Bäume, und im Laub sitzen Mädchen, toll! Hörst du?«
Ich hörte nichts. Meine Augen verschlangen das alles und konnten sich nicht losreißen.
»He, du, Kleiner, Japonamat, was glotzt du so, bist du zur Salzsäule erstarrt? Pawlowitsch«, dies zu Tylytsch, »gieß ihm mal ne Kelle Wasser übern Kopf, damit er zu sich kommt.«
Ich wurde mit kaltem Wasser begossen, danach wusste ich wieder, wo ich war. All das sollten Menschen gemacht haben? Unmöglich, wer konnte so was? Viele Fragen drängten sich in meinem Kopf, aber das Wichtigste für mich war, ich musste das auch lernen, wenigstens ein Teilchen davon.
Damals wusste ich noch nichts von Tomas Karlowitsch, ich erfuhr es später. Er war während des ersten Russisch-Japanischen Kriegs als Soldat unserer Armeenach einer Kontusion in japanische Gefangenschaft geraten. Eines Tages befahl die Lagerleitung allen russischen Gefangenen, sich nackt auszuziehen und in einer Reihe vor zwei Banzais anzutreten. Die beiden schritten langsam die Reihe der nackten Männer ab und blieben vor dem hochgewachsenen, hellhäutigen jungen Esten stehen, und während sie in ihrer Sprache loskakelten, patschten sie mit ihren Kinderhändchen auf
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