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Sechs Richtige und eine Falsche: Roman (German Edition)

Sechs Richtige und eine Falsche: Roman (German Edition)

Titel: Sechs Richtige und eine Falsche: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Hasselbusch
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schlechtes Gewissen schon ein, dass ich mit einem halben Bein im Knast stünde.

Man muss sich beeilen,
wenn man etwas sehen will,
alles verschwindet.
    Paul Cézanne
    Ich zog meine schwedischen Gardinen zu. Blau-weiß gemustert, hatte ich mir vor ein paar Jahren für mein Schlafzimmerfenster nähen lassen. Sie gaben dem Raum eine unschuldige Frische. Unschuldig war das Wort, das an diesem Tag am wenigsten zu mir passte. Ausgestreckt auf dem Bett, den Blick zur Decke gerichtet, überlegte ich, ob Daniel mir nach meiner illegalen Aktion auf die Schliche kommen könnte.
    Ich musste mir eingestehen, dass ich eine lausige Schnüfflerin war, hatte ich doch vergessen, den eingehenden Anruf von Frau Schneider zu löschen. Nicht, dass ich auf die Schnelle gewusst hätte, wie das ging. Mit meinen hektischen Bewegungen hätte ich eher die gesamte Kontaktliste gelöscht, das Handy in die Luft gejagt oder weggebeamt. Diese iPhones heutzutage konnten doch alles. Um mich von meinen Überlegungen abzulenken, griff ich nach einer Frauenzeitschrift und blätterte lustlos darin herum. Zehn Sonderseiten über die aktuelle Sommerschuhmode.
    »Warum reden Frauen so gerne über Schuhe?«, hatte Daniel neulich lauthals gefragt.
    »Weil das die einzige Größe ist, für die sie sich nicht schämen und die sich nicht wie bei Kleidern ändert«, hatte ich ehrlich geantwortet. Schuhmodel konnte quasi jede. Einmal Größe 40, immer Größe 40.
    Jetzt dachte ich schon wieder an Daniel. Damit musste Schlusssein. Ich tastete unter dem Bett nach einem Buch, das mich hätte ablenken können, und stieß auf eine Tüte.
    »Ach, die Fotos!«, dachte ich mit einem mulmigen Gefühl. War jetzt der richtige Zeitpunkt, um eine Zeitreise in meine Vergangenheit zu machen? Melancholischer würde ich nicht werden, und so öffnete ich seufzend die alte Fototasche. Ich zog an die vierzig Bilder heraus, die teils schon vergilbt waren. Die ersten zauberten sogar ein Schmunzeln auf mein Gesicht.
    Carl in Schlaghosen und engem Hemd vor seinem Laden, dem »Würz«, grinsend zeigte er auf einen Beutel, auf dem »Alter Pfeffersack!« stand. Es waren sogar Fotos von Kaschi dabei, auch das eine Bild, das ich in seinem Wohnwagen entdeckt hatte, auf dem Carl zwei hübsche Frauen im Arm hält und Kaschi verlegen lächelnd daneben steht. Allmählich wurde es düster, und ich knipste meine Nachttischlampe an, um mir die Personen genauer ansehen zu können.
    Carl war ein richtiger Sonnyboy gewesen, auf einigen Fotos schaute er mir auch eine Spur zu arrogant. Ich blätterte weiter durch die Fotos, und plötzlich sah ich sie: meine Mama. Einmal in einer Latzhose, dann lachend neben Carl, in einem Blumenkleid, das blühende Leben. Das alte Papier weichte auf, als die erste Träne drauf tropfte. Es fiel mir schwer, zu verstehen.
    Ich schaute mir Fotos an, auf denen sie so lebendig aussah, während sie längst vermodert und in Staub aufgelöst seit Jahren unter der Erde lag. Ich durfte nicht länger hinsehen! Fotos voller Freude. Das hier war nicht meine Mutter. In meiner Erinnerung war meine Mutter ein elendig abgemagertes Stück Mensch, das nur noch aus Haut und Knochen bestand, mich, ihre einzige Tochter, am Ende nicht mehr erkannte und direkt aus dem Rollstuhl in den Sarg rutschte. Und weg! So hatte ich sie zuletzt gesehen. Anders durfte ich sie nicht sehen. Schließlich war das ihr letzter Auftritt auf Erden gewesen: ein Wrack, das die Welt viel zu früh verlassen hatte. Wie durfte ich es mir da anmaßen, Bilderaus glücklichen Zeiten anzuschauen und zu behaupten, dies sei meine Mutter? War sie das wirklich? Ja, das war sie, wie sonst hätte sie dieses kleine Etwas auf dem Arm halten sollen?
    Ich betrachtete durch einen Schleier vor meinen Augen ein Bild, auf dem meine hübsche Mutter ein Bündel Baby trug: mich. Auch dieses Foto hatte jahrelang in Carls Schrank auf seine Entdeckung gewartet. Da müsste ich dem Glückskleebringer noch dankbar sein. Ohne die Renovierungsarbeiten im »Würz« wäre die Tüte mit den Bildern vielleicht nie aufgetaucht, auf ewig in unendlichen Tiefen begraben, genau wie meine Mutter.
    »Hör auf, so einen Unsinn zu denken!«, wies ich mich schniefend zurecht.
    Verena hatte mir nach dem Tod meiner Mutter in etlichen kostenlosen Therapiestunden klargemacht, dass ich, wenn ich das wollte, meine Mutter als gesundes Wesen in Erinnerung behalten dürfte, dass ich keine Schuld an ihrer Krebserkrankung hätte und dass ich auch keine Leichenfledderei

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