SECHS
wird wohl eine Weile brauchen, bis er wieder einigermaßen laufen kann. Ob das ohne Einschränkungen geht, kann man jetzt noch nicht abschätzen. Alleine die Beckenring-Fraktur wird ihn mindestens acht Wochen ans Bett fesseln.“
Wieder legte sie eine Pause ein und fuhr dann fort, Melanies eigentliche Frage zu beantworten.
„Entscheidend sind nun die ersten vierundzwanzig Stunden. Aber auch danach können immer noch Komplikationen auftreten. Wir haben im Moment nur die akut lebensbedrohlichen Verletzungen operiert, Blutungen gestoppt und überwachen ihn jetzt auf der Intensivstation. Morgen, gegebenenfalls auch erst übermorgen, wird wieder operiert. Im Rahmen dieser Sekundär-OP wird kontrolliert, ob keine inneren Blutungen auftreten und die Brüche werden, so weit möglich, endgültig versorgt. Vor allem der Beckenbruch.“
„Warum wurde nicht gleich alles operiert? Warum muss er noch einmal all das über sich ergehen lassen?“, fragte Melanie, mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung im Gesicht.
„Frau Brenner, ich kann Ihre Aufregung verstehen. Aber das ist das Standardverfahren für polytraumatisierte Patienten. Die Mortalität ist deutlich geringer, wenn man sich zunächst auf die lebensbedrohlichen Verletzungen konzentriert. Dabei geht es im Wesentlichen um eine Stabilisierung des Organismus. Operationen, die nicht dem Ziel der Stabilisierung dienen, können durchaus kontraproduktiv wirken.“
Mortalität! Dieses Wort würde sich auf Ewigkeit in ihr Hirn gegraben haben.
Melanie nickte. Sie hatte verstanden und trotz der Fülle von Hiobsbotschaften, die wie Hagelkörner Krater in ihr Bewusstsein schlugen, herrschte ein Gedanke vor: Er lebt!
Und ganz egal, wie schwierig es würde, sie beide, sie alle würden es irgendwie schaffen. Wie so oft.
„Kann ich ... kann er sprechen? Ich meine, ist er ansprechbar?“, fragte Melanie ohne viel Hoffnung.
„Nein. Wir haben ihn in ein künstliches Koma versetzt. Sie können ihn aber sehen, wenn sie möchten?“
Sie wollte, aber gleichzeitig hatte sie unendlich Angst davor. Melanie nickte still.
„Möchten Sie die Kinder mitnehmen?“, frage die Ärztin.
Melanie hatte keinen Zweifel daran, dass der Anblick ein schrecklicher wäre. Am schwersten zu verdauen aber würde für die Kinder sein, dass Frank schlief und sich nicht rührte.
Sie beschloss, den beiden die Achterbahn der Gefühle zu ersparen. Wenn es ging, sogar so lange, bis ihr Vater aus dem Koma erwacht war.
„Nein. Ich denke nicht", antwortete sie.
Frauke nickte zustimmend.
„Das ist auch besser so. Dann folgen Sie mir bitte.“
Die Ärztin führte Melanie durch eine Schleuse. In einem Raum dahinter wurde sie dann mit blauer Schutzkleidung, Überschuhen und Mundschutz ausgestattet. Nachdem sie sich die Hände desinfiziert hatte, trat sie den schwersten Gang ihres Lebens an.
Melanie wurde an mehreren Zimmern vorbeigeführt. Alle waren durch große Scheiben vom Flur getrennt. Manches Mal konnte Melanie durch die geöffneten Lamellen der Jalousien hineinblicken. Dann erspähte sie eine Armada von Apparaturen, die rechts und links um das Kopfende des Bettes herum gruppiert waren und bei all ihrem Geblinke, schienen sie ihr noch das Lebendigste.
Melanie bekam einen bitteren Vorgeschmack auf das, was sie erwartete. Trotzdem hoffte sie irgendwie auf ein anderes Bild. Auf das eines Mannes, ihres Mannes, der aufrecht im Bett sitzen, sie anlächeln und sagen würde:
„Komm rein, Süße. Hier ist es gar nicht so übel.“
Jede Scheibe, an der sie nun vorbeiliefen, steigerte Melanies Nervosität ins Unermessliche. Ihre Nägel gruben sich scharf in ihre Handflächen.
Vor der sechsten Scheibe, zu ihrer Rechten, blieb die Ärztin stehen. Aus den Augenwinkeln sah Melanie, dass die Jalousien geschlossen waren. Sie wagte trotzdem nicht, ihren Kopf zu drehen.
„Hier ist es", sagte Frauke knapp.
„Möchten Sie, dass ich mitkomme?“
Melanie schüttelte kraftlos den Kopf. Sie wollte alleine mit ihm sein.
„Gut. Ich gehe mal nach den Kindern schauen.“
Melanie nickte dankbar.
„Und reden Sie ruhig mit ihm! Okay? Wenn etwas ist, klingeln Sie.“
„Ja ... gut.“
Frauke warf ihr noch einen aufmunternden Blick zu und verließ sie dann. Noch immer starrte Melanie an der Scheibe vorbei. Dann aber trat sie mit gesenktem Blick ein. Nachdem sie ein paarmal durchgeatmet hatte, richtete sie den Kopf nach oben und war bereit zu sehen, was zu sehen sich nicht vermeiden ließ.
Da lag ihr Mann. Leblos.
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