SECHS
Polizistin.
Corinna hatte kaum zugehört, nur die Hälfte mitbekommen.
„Wie ... ja ...?“, stammelte sie.
„Ist etwas mit Ihrer Schwester?“, fragte Melanie dazwischen.
„Nein ...“, krächzte Corinna.
„Nein?“, kam es überrascht aus dem Hörer.
Corinna blickte Melanie starr an. Mechanisch betätigte sie den Ausschalter und beendete die Verbindung. Das Handy glitt ihr aus der Hand und schlug dumpf auf den Tisch. Dann raufte sie sich die Haare.
Melanie spürte die nackte Panik über den Tisch wehen.
„Was? Was ist passiert?“, stieß Melanie alarmiert aus. Corinna schüttelte den Kopf. Wieder und wieder. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
„Polizei ... das war die Polizei ...“, kam es mit tonloser Stimme.
Melanie begriff nicht.
„Was?“
„Fahrlässige Tötung ...“, wiederholte Corinna heiser.
Jetzt griffen die Zahnräder des Verstehens ineinander. Auch Melanie schüttelte den Kopf, voller Entsetzen. Ihre Finger umklammerten die Tischkante. Im nächsten Moment stieß sie sich von der Tischplatte ab und katapultierte sich nach hinten.
„Nein ... sagen Sie mir, dass das nicht wahr ist!“, schrie Melanie. Alle Gespräche um sie herum verstummten. Köpfe drehten sich suchend in alle Richtungen. Dann, nach wenigen Momenten der allgemeinen Irritation, wurden die Gespräche wieder fortgeführt und verwoben sich erneut zu einem lauten Teppich aus vielerlei Stimmen.
Corinna nickte still. Die Tränen liefen ihr über die Wange.
Auch Melanies Augen wurden feucht. Das durfte nicht sein! Das konnte nicht sein! Warum hatte das Krankenhaus nicht angerufen?
Ich muss ... wo ist mein Telefon? , schoss es Melanie durch den Kopf. Hastig durchwühlte sie ihre Handtasche. Fahrig zog sie das Handy aus der Tasche. Das Display war schwarz. Zitternd schaltete sie es an. Der Bildschirm flackerte auf, zeigte eine Akku-Warnmeldung und erlosch sofort wieder.
„Nein! Geh an!“
Auch ein zweiter Versuch blieb erfolglos. Melanie war verzweifelt. Das Krankenhaus hatte sie ohne Zweifel versucht zu erreichen.
Im nächsten Moment kam ein anderer schrecklicher Gedanke auf. Was, wenn das Krankenhaus zu Hause angerufen hatte? Was, wenn die Kinder es nun wussten?
Ihr stockte der Atem.
Sie schnellte hoch, griff sich das Telefon von Corinna, die noch immer apathisch vor sich hinstierte, und wählte die Nummer von zu Hause.
Es klingelte. Einmal. Zweimal. Dreimal. Beim vierten Klingeln endlich wurde abgenommen.
„Hallo?“ Es war Claire.
Melanie versuchte, Ruhe in ihre Stimme zu bekommen.
„Haaallo?“, rief Claire, als keine Antwort kam.
„Schatz. Ich bin es. Ist bei euch alles in Ordnung?“
„Nein. Gar nichts ist in Ordnung!“, rief Claire entrüstet aus.
„Diese doofe Kuh hat wieder in mein Schulheft gekritzelt.“
Gott sei Dank!
Die wenige Erleichterung, die man in einer solchen Situation verspüren konnte, verspürte Melanie.
Das Krankenhaus hatte nicht angerufen! Jedenfalls noch nicht. Ihre Knie fühlten sich plötzlich an, als bestünden sie nur aus weicher Gummimasse. Sie wankte zwei Schritte zurück und ließ sich schwer in den Stuhl fallen.
„Mama, wann kommst du nach Hause?“
„Bald. Ich komme so schnell ich kann.“
„Okay.“
„Claire? Ich möchte, dass ihr, bis ich zu Hause bin, nicht mehr ans Telefon geht. Verstanden?“
„Warum?“, fragte Claire.
„Bitte! Macht einfach, was ich sage.“
„Na gut", entgegnete Claire knapp und legte einfach auf.
Die beiden Frauen schauten sich aus nassen Augen an.
„Ich fahre sofort ins Krankenhaus!“
„Sie können auch anrufen ...“, sagte Corinna leise.
Melanie blickte auf das Telefon in ihrer Hand. Dann aber schüttelte sie den Kopf und schob es mit spitzen Fingern zurück.
„Nein, ich fahre zu ihm. Ich kann und will das nicht glauben!“
Etwas in Melanie war der Überzeugung, dass der Faden zu ihrem Mann noch nicht gerissen war. Sie spürte es. Er war da. Er lebte.
Corinna wagte nicht zu fragen, deswegen war sie erleichtert, als Melanie anbot mitzufahren.
Melanie ließ eine Zehn-Euro-Note auf dem Tisch liegen und die beiden Frauen rannten aus dem Café.
-33-
Die Fahrt ins Krankenhaus verlief voller Anspannung. Beide Frauen schwiegen. Keine verspürte das Bedürfnis zu reden. In Melanie tobte ein Tsunami der Gefühle. Welle über Welle brach sich über ihr. Und kaum, dass der eine Gedanke fortgespült war, brachte eine neue Welle den nächsten. Von allen Gedanken war der vorherrschende, was wäre, wenn es stimmte?
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