SECHS
Er wollte jetzt nach Hause, vor dem Ansturm der Gäste noch ein bisschen Luft holen. Der Cateringservice war für siebzehn Uhr bestellt, die ersten Gäste würden eine Stunde später eintreffen. Fünfundzwanzig Leute waren geladen, die meisten davon ihm unterstellte Mitarbeiter. Und speziell diese Einladungen waren weniger der Sympathie wegen ausgesprochen, als vielmehr aus der Erfahrung heraus, dass man sich Loyalität erkaufen musste. Es war nichts weiter als ein Spiel aus Geben und Nehmen, aus Säen und Ernten. Auf Sympathie war niemals Verlass!
Er betätigte die Sprechanlage.
„Frau Rudolf?“
„Ja?“, meldete sich die Sekretärin aus dem Vorzimmer.
„Ich will spätestens in einer halben Stunde gehen. Haben Sie noch etwas für mich?“
„Nur noch die Unterschriftenmappe.“
„Bringen Sie die rein. Ach, und ab jetzt stellen Sie keine Anrufe mehr durch.“
„Gut“, kam es knapp.
Wenige Sekunden später öffnete sich die Tür und die Sekretärin trat mit der Mappe in der Hand ein.
Wie so oft ließ er seinen Blick über ihren Körper wandern.
Yasmin Rudolf hatte es ihm angetan. Dreiundzwanzig, dynamisch, vielleicht ein bisschen zu grell geschminkt, aber das fand er mittlerweile anziehender als die unscheinbare Blässe, mit der seine Frau herumzulaufen pflegte.
Er machte sich allerdings nur wenig Hoffnung, bei seiner Sekretärin landen zu können. Denn was sollte die schon mit einem Mann anfangen, der einen gewaltigen Bauch vor sich herschob und dessen Glatze von einem mittlerweile angegrauten Kranz aus dünnen Härchen gesäumt wurde? In der Einschätzung seiner Wirkung war er durchaus realistisch.
Und sie war an dem Tag noch bestätigt worden, als er eines ihrer Telefonate mit anhören musste, in dem sie seinen Oberlippenbart angeekelt als „Popelbremse“ bezeichnet hatte. Einen Moment hatte er tatsächlich darüber nachgedacht, den Bart abzurasieren. Doch weil schon der erste zarte Flaum nur dazu diente, die von einer operierten Gaumenspalte zerstörte Oberlippe zu kaschieren, war der Gedanke auch schnell wieder verworfen.
Die Sekretärin schob ihm die Mappe hin und bückte sich dabei so, dass sie den Blick auf ihr Dekolleté freigab. Das passierte oft und diese Aussicht entschädigte ihn stets ein wenig für die Schmach, bei ihr nicht landen zu können.
„Andererseits ... “, dachte er. Vielleicht ergab sich doch noch eine Möglichkeit? Vielleicht schon heute Abend?
Der Wolf war geweckt. Und, verdammt, er war doch noch ein bisschen hungrig.
Er lächelte und Yasmin lächelte verkrampft zurück.
„Irgendwelche Termine morgen?“, fragte er.
„Nur die übliche Senatssitzung.“
Er nickte.
Die Sitzungen fanden jeden Dienstag statt und als Chef der Senatskanzlei war es seine Aufgabe, beratend an der Seite des Bürgermeisters teilzunehmen.
„Sagen Sie, haben Sie heute Abend schon etwas vor?“
Yasmin blickte ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Widerwillen an. Natürlich wusste sie von der Geburtstagsfeier, aber sie dachte nicht im Traum daran, dort hinzugehen.
„Ich ... mein Freund und ich gehen ins Kino", log sie.
Rentsch lächelte unbeirrt.
„Das ist aber jammerschade. Sie könnten da etwas verpassen. Und wer weiß, was morgen ist?“ Er zog die Augenbrauen nach oben. Jetzt war sein Lächeln verschwunden.
Sie zögerte. Rentsch sah ihrem Gesicht an, dass sie geraden einen heftigen Kampf mit sich ausfocht.
„Ich will nichts versprechen ...“, kam es mit gedämpfter Stimme.
Er nickte. Er hatte gewonnen!
„Ihr Freund wird doch bestimmt dafür Verständnis haben, dass Sie zum Geburtstag Ihres Chefs kommen?“
Er lächelte wieder, und sie erwiderte sein Lächeln voller Bitterkeit.
„Ich arbeite mich jetzt durch die Papiere. Wir sehen uns dann heute Abend", sagte er mit Blick auf die Unterschriftenmappe.
Wortlos drehte sie sich um und ging zur Tür. Als sie diese geöffnet hatte und gerade das Büro verlassen wollte, flötete ihr Rentsch hinterher.
„Achtzehn Uhr. Nicht vergessen ...“ Sie drehte sich nur kurz zu ihm um, nickte kaum merklich und verschwand.
Rentsch überflog die ihm zur Unterschrift vorgelegten Papiere. Nachdem er alles unterschrieben hatte, erledigte noch einen Anruf. Danach schlüpfte er in seinen Mantel, nahm die Mappe und durchquerte den Raum.
Als er die Tür zum Vorzimmer gerade ein wenig geöffnet hatte, hörte er Yasmin flüstern. Er verharrte regungslos, lauschte angestrengt durch den Spalt.
„... muss da hingehen.“
Dann folgte
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