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SECHS

SECHS

Titel: SECHS Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niels Gerhardt
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das Enträtseln der Motive.
    Die meisten Tötungen geschahen aus irgendeiner Variation dessen heraus, was man unter dem Begriff „Liebe“ zusammenfassen konnte. Verschmähte Liebe, vermeintliche Liebe, Hass-Liebe, Eifersucht und noch diverse Mischformen und Kombinationen. Insbesondere in der „vermeintlichen Liebe“, lag für ihn stets eine ganz besondere Dramatik. Diese Form der Liebe leitete Männer wie Frauen in die Irre. Sie töteten nur in dem Glauben, mit der Tat zu behalten, was sie umbrachten.
    Auf Platz zwei seiner persönlichen Motiv-Hitliste stand eine der sieben Todsünden: die gute alte Habgier. Sie durchzog schon die Bibel wie ein roter Faden. Die Normalität dieses Beweggrundes machte die Habgier in seinen Augen zwar nicht weniger verwerflich, aber doch zutiefst menschlich. Er war davon überzeugt, dass sie in jedem Menschen steckte - mehr oder weniger ausgeprägt. Darum fürchtete sich auch jeder vor ihr, denn sie entblößte das habgierige Selbst. Und wer wollte schon als habgierig gelten? Dann doch besser ein Mörder.
    Als einen weiteren niederen Beweggrund für das Töten, hatte er den Trieb kennengelernt. Auch er ängstigte den Menschen, weil er ebenso Teil eines jeden ist, wie die Habgier. Er tauschte in seiner Hitliste mit der Habgier immer mal wieder die Platzierung.
    Manches Mal, so kam es ihm vor, war das schlicht saisonal bedingt. Im Sommer war der Sexualmord auf Platz zwei, nur um dann im Winter von der Habgier auf Platz drei verwiesen zu werden. Aber das war nur ein Bauchgefühl und von ihm noch nicht statistisch erfasst.
    Andere Motive bildeten die Ausnahme. Dazu gehörten tödliche Befreiungsschläge von gequälten Ehefrauen, Ehrenmorde im kulturellen Schmelztiegel dieser Stadt oder Tötungen aus schierer Rache. Der in den einschlägigen Thrillern oft beschriebene Psychopath vom Format eines Hannibal Lecter war Raith zu seinem Bedauern noch nicht untergekommen.
    Eines jedenfalls einte viele Taten: Sie waren das Werk von Dilettanten - Tätern, die im Töten keinerlei Übung hatten und dementsprechend zu Werke gingen. Das Ergebnis war dann nicht selten ein Chaos aus Fleisch, Fetzen, Blut und Knochen.
    Während er nun, äußerlich teilnahmslos, zwei Passanten dabei beobachtete, wie sie über etwas in Streit gerieten und darüber heftig gestikulierten, fragte er sich, in welche dieser Kategorien er den Mord an Marija Zwetkow einsortieren konnte?
    Die Tatsache, dass der unglücklichen Marija, wie das Obduktionsergebnis nun zweifelsfrei ergeben hatte, mit präziser Gewalt das Genick gebrochen worden war, in Kombination mit dem höchst merkwürdigen Fundort der Leiche, waren für sich alleine schon Anhaltspunkte genug, um zumindest der Tatsache gewahr zu werden, dass er es nicht mit einem Täter zu tun hatte, der darin ohne Übung war.
    Das hier war sauber und schnell ausgeführt, von jemandem, der genau wusste, wie man so etwas anstellte. Demzufolge kein Chaos aus Fleisch, Fetzen, Blut und Knochen.
    Einem Menschen das Genick zu brechen, war, trotz aller cineastischen Vorlagen, kein leichtes Unterfangen. Und beileibe endete nicht jeder Genickbruch tödlich. Auch das wusste er. Blieben die Nervenstränge des Rückenmarks nämlich unversehrt, würde das Opfer überleben. Und selbst wenn das Rückenmark in Mitleidenschaft gezogen worden war, konnte das unter Umständen auch nur zu einer Lähmung führen. Entscheidend für die Ausführung war also, das Überraschungsmoment auf seiner Seite zu wissen, die richtige Bewegung auszuführen und das Rückenmark sicher zu durchtrennen.
    Diese ersten Erkenntnisse führten zu einem Bild, das sich schemenhaft aus dem Nebel seiner Vorstellung löste. Es musste sich um einen Täter mit der nötigen Kraft handeln und damit war dieser aller Wahrscheinlichkeit nach männlich. Dafür, dass es sich nur um einen einzelnen Täter gehandelt haben konnte, sprachen die wenigen Spuren. Die Bedeutsamsten davon hatte man nicht im Kühlraum selbst gefunden, sondern im Flur. Schwarze Abriebspuren, die durch die Gummisohlen von Marijas Schuhen, wie auch von denen ihres Mörders hervorgerufen worden waren. Man sicherte auch Krümel von Erdreich. Raith hoffte, dass sie dem Labor vielleicht etwas über seine Herkunft verrieten und mit wirklich unheimlich viel Glück, etwas über den Aufenthaltsort des Täters.
    Das „Warum“ und „Wieso“ es diese alte, harmlose Frau getroffen hatte, lag im Dunklen des Weges der nun anlaufenden Ermittlungen. Mit der entscheidenden

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