SECHS
Ereignisse allerdings hatten eine besondere, nie dagewesene Qualität und nahmen sie deshalb doch irgendwie mit. Alles fing mit den Fällen an, die eingeliefert worden waren und gipfelte dann, kurz bevor sie ins Bett gehen wollte, in der von ihrem Kollegen telefonisch überbrachten Nachricht, dass eine Putzfrau ihr Leben gelassen hatte.
Die Nachricht als solche hatte sie nicht um die Nacht gebracht, denn schon seit Jahren kannte sie keinen wirklich tiefen Schlaf mehr, aber sie führte erstmalig dazu, dass sie sich ausnahmsweise nicht in diesem allmächtigen Strudel rund um die Frage verfing, warum das Wichtigste in ihrem Leben einfach so wegradiert worden war.
Diese Frage war auch nach unzähligen durchwachten Nächten noch immer nicht geklärt und würde es wohl nie. Da hatte sie keine Hoffnung mehr.
Die andere Frage, welchen Sinn das Leben noch machte, harrte indes noch immer der Beantwortung. Diesbezüglich kam sie in diesen dunklen Nächten irgendwann zumindest immer an den Punkt, dass sie sich, mit Blick auf die Sinnlosigkeit des Todes derer, die sie geliebt hatte, eingestehen musste, dass im eigenen Sterben dann wohl auch kein rechter Sinn liegen könne. Und so traf sie jede Nacht aufs Neue die Vereinbarung mit sich selbst, wenigstens bis zur nächsten weiterzumachen und, zwischendurch, eben in die Klinik zu fahren.
Immerhin aber war Frauke mittlerweile so weit, dass sie nicht mehr jeden Tag zu den Gräbern ging, dort stundenlang sehnsüchtig verharrte. Sie hatte irgendwann begriffen, dass sich die Quantität und Qualität ihrer Liebe zu Mann und Tochter nicht nach der Anzahl ihrer Friedhofsbesuche bemaß.
Und so blieb es bei maximal vier Besuchen pro Woche. Ohne dass sich ein schlechtes Gewissen in ihr ausbreitete, wie die Fäule im Fruchtfleisch des Apfels.
Frauke stand in der Küche. Gedankenverloren lauschte sie dem Sprudeln aus dem Schnellkocher. Sie rief sich das Telefonat mit ihrem Kollegen Reitz in Erinnerung. Frauke hatte eine Weile gebraucht, bis seine Beschreibung ein Bild von der Frau heraufbeschworen hatte - und es blieb dennoch sehr unscharf. Aber das war nicht weiter verwunderlich.
Die Personalfluktuation in einem Krankenhaus war natürlicherweise sehr hoch und erst recht inmitten der Reihen des Reinigungspersonals, das sich ausnahmslos aus Mitarbeitern von Fremdfirmen rekrutiert. Die Meisten hielten es nicht lange aus. Das lag zum einen an der schlechten Bezahlung, die in keinem Verhältnis zur Härte des Jobs stand, aber sicher auch an den gesundheitlichen Risiken, die eine Arbeit im Krankenhaus mit sich brachte. Manche fürchteten an Keimen zu erkranken. Hier war MRSA das Thema Nummer eins.
Nun war diese Frau aber nicht das Opfer irgendeiner Krankheit, sondern mit gebrochenem Genick aufgefunden worden. Sie konnte sich vorstellen, was das für einen Wirbel in der Klinik verursacht hatte und ohne Zweifel noch verursachen würde. Hätte ihr Kollege nicht darauf bestanden, dass sie zu Hause bliebe, so wäre sie sofort wieder in die Klinik gefahren.
Das Wasser kochte jetzt. Mit einem Klacken schaltete sich der Wasserkocher aus. Dampfschwaden kondensierten auf dem Küchenfenster und zogen einen Schleier über eine weiße Welt vor der Scheibe.
Wer hatte die Frau auf dem Gewissen? Ein unangenehmer Gedanke ließ sie zusammenzucken. Was, wenn der Mörder immer noch unter ihnen weilte? Vielleicht war es ein Patient oder, schlimmer noch, ein Angestellter? Wie sicher waren ihre Kollegen jetzt noch?
Frauke schüttelte den Kopf.
Deine Phantasie geht durch.
Aber vielleicht wäre es doch gut, wenn sie wenigstens Walter in ihre Überlegungen einweihte? Sie schaute auf die Uhr. Er müsste noch Dienst haben.
Frauke goss sich schnell einen Tee auf und ging dann zum Telefon. Sie wählte Walters Durchwahl. Wenn sie Pech hatte, war er gerade zur Visite unterwegs. Es klingelte. Nach nur einem Freizeichen wurde abgenommen.
„Reitz", kam es von der anderen Seite.
„Hallo Walter.“
„Ah ... Frauke. Hast du ausgeschlafen?“
„Naja. Ich habe mir die halbe Nacht den Kopf zerbrochen.“
„Das habe ich mir fast gedacht. War auch ganz schön was los hier. Die Polizei hat umgedreht, was umzudrehen war.“
„Walter, ich bin in der Lage zu kommen. Ich denke, du solltest dich ausruhen. Immerhin hast du die Frau ...“
„Schnickschnack! Glaubst du, das war meine erste Leichenschau? Du bleibst, wo du bist!“
„Wie du willst. Gibt es irgendwelche neuen Erkenntnisse?“, fragte sie.
„Nein. Die
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