SECHS
dass doch eine Überraschung aus der Ecke gesprungen kam.
„Ihr Kollege hat Sie schon angekündigt. Aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass ich Ihnen keine Hilfe sein werde.“
Wovon sprach sie?
„Möchten Sie einen Tee, Kaffee oder etwas anderes?“, fragte sie und drehte sich im Laufen kurz zu ihm um.
„Ah ... Kaffee.“
Sirkowsky überlegte, ob er sie nicht einfach von hinten erledigen sollte. Die Gelegenheit war günstig. Andererseits aber war er neugierig. Wen erwartete sie und warum erkannte sie ihn nicht? Er hatte sich ihr also doch nicht so eingebrannt wie gedacht. Irgendwie kränkte ihn das. Andererseits ... vielleicht brauchte er genau deswegen nichts zu unternehmen? Denn bei aller Vorfreude bedeutete Professionalität eben auch, nicht mehr Wind zu machen als unbedingt nötig und die hier schien in ihrer Ahnungslosigkeit den Sturm nicht wert, den ihr Ende sähen würde. Ja, Professionalität hieß Flexibilität zu zeigen!
Sirkowsky lächelte.
So beschloss er das Spiel noch eine Weile mitzuspielen und eben spontan zu entscheiden, was zu tun ist - auch wenn er damit wieder gegen seine Regel handelte, schnell vorzugehen und ebenso schnell wieder zu verschwinden.
Der Geruch von Tee stieg ihm in die Nase. Pfefferminz-Tee! So etwas hatte er schon lange nicht mehr gerochen. Es erinnerte ihn an seine Mutter. Es erinnerte ihn an Frieden.
Frauke stoppte und drehte sich zu ihm um.
„Gehen Sie schon mal ins Wohnzimmer und nehmen Sie Platz. Ich mache Ihnen derweil einen Kaffee.“
Sie deutete nach links, in die Richtung, die er einzuschlagen hatte. Er nickte.
Im Wohnzimmer angekommen, horchte er in sich und in das Haus hinein. Alles war ruhig. Es waren keine Probleme zu erwarten. So verzichtete er auch darauf, ein Fenster zu öffnen. Schon alleine, um die Auflösung des Rätsels nicht zu gefährden.
Das Wohnzimmer war aufgeräumt eingerichtet. Es wurde beherrscht von schwarzem Lackmobiliar, weißen Wänden und noch weißeren Gardinen. Hier und da waren rote Farbtupfer eingestreut. Von den Kissen, über den Bildern an den Wänden, bis hin zu den Blumen. Es sah nach Geld aus.
Auf einem Sideboard entdeckte er eine Menge gerahmter Fotos. Die Bilder waren sorgsam aufgereiht. Zwischen und vor ihnen waren Teelichter verteilt, deren Dochte angekokelt waren.
In diesem Anblick erkannte er sofort eine Praxis aus der Welt des orthodoxen Christentums - dem Leitstrahl aller Gläubigen seiner Heimat. In seiner Kultur war das ein Schrein, und entweder er huldigte den Lebenden oder den Toten. Und auch hier schien es dem gleichen Zweck zu dienen. Zwar fehlte der Geruch von Weihrauch, aber die Kerzen waren ihm Hinweis genug: Hier gedachte jemand der Toten.
Er blickte sich schnell in Richtung der gegenüberliegenden Küche um. Die Frau war mit dem Kaffee beschäftigt. Sie lief hin und her, klapperte mit Geschirr und dazwischen vernahm er das schnorchelnde Geräusch der Kaffeemaschine. Keine Schwierigkeiten. Dadurch beruhigt, schritt er die Fotografien ab und betrachtete sie genauer. Sie alle zeigten stets nur drei Personen.
Das erste Foto war das Portrait eines Mannes. Ihm folgte ein weiteres Bild, das ihn zusammen mit der Frau abbildete. Lächelnd und glücklich. Andere Fotografien zeigten sie mit einem Mädchen abgelichtet. Das Gesicht der Kleinen war ganze viermal gerahmt. Solo. Diese vier Fotografien bildeten ein Halbrund um eine Kerze. Mit dem Zeigefinger zeichnete Sirkowsky kurz den Mund des Mädchens nach und ging dann weiter. Den Abschluss bildete ein Foto, auf dem sie alle vereint in die Kamera lächelten. Der Mann links, die Frau rechts und das Mädchen in ihrer Mitte.
„Das war ... das ist meine Familie.“
Sirkowsky wirbelte auf dem Absatz herum. Frauke zuckte zusammen. Dabei schwappte etwas von der heißen Flüssigkeit aus den Bechern und lief ihr über die Hände.
„Mist ...“, stieß sie aus.
Rasch ging sie zum Tisch, stellte die Becher ab und wischte sich mit einer Serviette trocken.
„Ich habe Sie erschreckt.“
„Schon gut. Nichts weiter passiert", wiegelte sie ab und kontrollierte ihre Bluse auf Flecken, sichtlich bemüht, die Fassung zu wahren. Als sie wieder zu ihm blickte, registrierte er, dass sein Gebaren erste Spuren von Irritation in ihr Gesicht gezeichnet hatte. Diesen Ausdruck kannte er schon von ihrer ersten Begegnung.
„Sagen Sie, wie war noch Ihr Name?“, fragte Frauke.
„Oh ... natürlich. Wie unhöflich. Antoyew.“
Mit ausgestreckter Hand machte er einen Schritt
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