SECHS
ungeduldig. Einen Augenblick später hörten sie die Eingangstür knarren. Dann drang eine Stimme aus dem Hausflur.
„Frau Zanner? Hier ist die Polizei.“
Die Kavallerie! Die Hexe hatte ihn hingehalten, ihn um seinen Lohn gebracht! Ihr Treffen mit der Erlösung war verspielt. Seine Narbe juckte. Wie immer, wenn etwas schief lief.
„Hallo?“, kam es wieder. Dieses Mal näher.
Sirkowsky blickte hasserfüllt zwischen Frauke und der zum Flur geöffneten Tür hin und her. Jetzt musste es schnell gehen.
Kurz bevor Frauke schreien konnte, zog er den schweren Kerzenständer vom Tisch, holte aus, legte all seine Kraft in den Schlag und traf sie auf Höhe der Schläfe. Ihr Schädel brach. Die Wucht des Treffers ließ sie samt Stuhl zur Seite kippen und krachend auf den Boden schlagen. Sofort bildete sich eine Blutlache um ihren Kopf herum. Dann rannte Sirkowsky zum Fenster, verbarg sein Gesicht im Mantel und sprang durch die Scheibe.
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Von zwei dumpfen Schlägen und dem Geräusch von klirrendem Glas aufgeschreckt, zog Reimar seine Waffe aus dem Holster und entsicherte. Schon als er geklopft hatte und die Tür daraufhin einfach aufschwang, war ihm, als ob hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Umso vorsichtiger tastete er sich jetzt den Flur entlang, sicherte sich im Sekundentakt ab und hielt Kontakt zur linksseitigen Wand.
Am Ende des Gangs spannte sich ein Lichtquadrat quer über den Flur. Es verband zwei gegenüberliegende Räume - und aus einem der beiden waren die Geräusche gekommen. Da war er sich sicher. Er beschleunigte seine Schritte, achtete dabei aber darauf, seine genaue Position nicht zu verraten. Als er angekommen war, zeigte ihm ein schneller Blick in den Raum auf der gegenüberliegenden Seite, dass keine Gefahr drohte. Das war die Küche. Sie war leer.
Er atmete leise durch, zählte in Gedanken bis drei und schaute dann rasch um die Ecke in den Raum auf seiner Seite des Flurs. Das Wohnzimmer. Die einzige Bewegung, die er dort wahrnehmen konnte, rührte von einer Gardine, die vor einem zerborstenen Fenster im Wind flatterte. Der Boden davor war übersät mit Splittern.
Schnell zog er den Kopf wieder hinter die schützende Wand zurück. Einige Sekunden lauschte er angestrengt nach irgendeinem Geräusch, das ihm verraten könnte, dass er geradewegs in einen Hinterhalt geriet und in welche Richtung er dann zu schießen hatte. Doch da war nichts. Nur das Flattern des schlagenden Stoffs. Nach einem letzten, kurzen Blick um die Ecke, betrat er langsam, mit vorgehaltener Waffe den Raum.
Und da sah er es. Zu seiner Rechten lag ein umgestürzter Stuhl, auf diesem festgebunden eine Frau in einer Lache aus Blut.
Ein letztes Mal sicherte er sich ab, steckte dann die Waffe in den Holster und rannte zu ihr.
Blut sickerte aus einer Wunde über dem Ohr, durchtränkte ihr Haar und vergrößerte die Pfütze auf dem Boden. Langsam, aber beständig. Ein Lebenszeichen konnte er nicht entdecken.
Reimar kniete sich nieder, wischte die klebrigen Haarsträhnen über dem Hals beiseite und betete, noch einen Puls fühlen zu können. Und in der Tat! Ihr Herz schlug; ein schwach pulsierender Schimmer der Hoffnung.
Hastig fummelte er sein Handy aus der Innentasche und wählte die Nummer des Notrufs. Im Anschluss daran informierte er die Kollegen der Spurensicherung.
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Wieder einmal saß Melanie auf dem Krankenhaus-Flur und wieder einmal wartete sie auf Neuigkeiten. Im Guten, wie im Schlechten. Franks Operation dauerte nun schon Stunden. Wie viele, das konnte sie beim besten Willen nicht sagen. Nur eines: Für Müdigkeit war kein Platz, die Anspannung hielt sie wach.
Unzählige Menschen liefen an ihr vorbei. Besucher, Kranke, Pfleger, Ärzte. Insbesondere Letzteren schenkte sie ihre Aufmerksamkeit. Sah sie jemanden in einem weißen Kittel auf sich zukommen, sezierte sie dessen Mimik und Gestik aufs Genaueste. Meinte sie auch nur den Hauch von Anspannung zu erkennen, hoffte sie, er möge einfach an ihr vorbeilaufen und dabei nichts weiter als eine Fahne aus Sterillium hinterlassen. Alles, nur keine schlechten Nachrichten.
Während sie alle aufmerksam beobachtete, ließ sie ihre Gedanken kreisen. Wie sollte sie Weihnachten nur überstehen? Ohne Frank? Dass sie selbst diesen Tag ohne ihn verbracht hatte war bloß eine blasse Erinnerung aus einem anderen Leben. Und für die Kinder? Für die gab es keine Erinnerung an ein Weihnachtsfest, die vor ihrem Vater lag. Was, wenn sie diesen Tag einfach ausfallen
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