SECHS
Kopf kurz im Nacken kreisen, in der Hoffnung das würde den Schmerz lindern. Aber es half nicht.
„Wach? Das ist gut. Dann können wir ja anfangen", kam es aus dem Schatten.
Die Stimme des Mannes! Sie erinnerte sich.
„An ... fangen ...?“, krächzte Frauke.
Der Schatten blieb vor ihr stehen. Ein paar Sekunden geschah nichts. So hatten ihre Augen etwas Zeit sich zu fokussieren. Und tatsächlich. Die Konturen schärften sich vom Rand zur Mitte hin und kurz darauf tauchte auch der Rest aus dem Schleier auf. Er war es.
„Na schön. Die Zeit muss sein", kam es.
Sirkowsky zog einen Stuhl heran und setzte sich vor sie.
„Ich will dir helfen. Ich kenne dein Leid. Es gibt keinen Frieden in deinem Herzen. Habe ich recht?“
Das war so unfassbar nahe der Wahrheit, dass sie schwer schlucken musste. Mit einem Schlag war sie hellwach.
„Erst wollte ich dich einfach nur töten, aber dann habe ich erkannt, dass du nach Erlösung verlangst.“
Frauke suchte seinen Blick.
„Und nun ...“, sie hustete, schmeckte dabei etwas Blut im Mund, „... nun werde ich verschont?“
„In gewisser Weise.“
„Warum wollten Sie mich töten?“
„Aus dem falschen Motiv", antwortete Sirkowsky mit einem Lächeln.
„Und das wäre?“ Sie hustete.
„Ich dachte, du würdest dich an mich erinnern, mir die Polizei auf den Hals hetzen. Das konnte ich nicht zulassen.“
Frauke war nun klar, wer er war. Er hatte die alte Putzfrau auf dem Gewissen. Ihr Gesicht drückte aus, was sie dachte. Und Sirkowsky las es.
„Sie waren das? Sie haben ...“
„... Babuschka Frieden gegeben.“ Sirkowsky nickte.
„Frieden? Sie haben sie ermordet!“
Seine Miene verfinsterte sich. Er hatte sie nicht einfach nur getötet, er hatte sie geliebt und befreit! Was wusste sie schon? Er atmete durch, zügelte seinen Zorn.
„Warum um Himmels willen? Das war eine harmlose Frau!“
„Manchmal nehmen die Dinge eben eine andere Wendung. So war das bei Babuschka und so ist es jetzt bei dir.“
Der Mann sprach in Rätseln. Sie hatte es hier mit einem Psychopathen zu tun!
„Warum haben Sie mich auf dem Stuhl festgebunden, wenn Sie mich verschonen wollen?“
Er winkte ab.
„Du hörst nicht richtig zu. Die Meisten lasse ich einfach sterben. Ihr Tod ist damit bedeutungslos, ohne Würde. Aber dich verschone ich davor. Verstehst du?“, antwortete Sirkowsky.
Frauke schüttelte den Kopf.
„Aber warum ... warum haben Sie es dann nicht gleich getan?“
Er lehnte sich weit nach vorne und flüsterte ihr ins Ohr.
„Weil ich die Dankbarkeit in deinen Augen sehen will.“
Der Mann war komplett wahnsinnig! Sie musste noch Zeit gewinnen! Zeit für eine Lösung, die sie noch nicht sah. Denn was sie jetzt sehr deutlich spürte, war ein Lebenswille. Und der flackerte nicht mehr nur wie all die Jahre zuvor, er loderte. Also hielt sie das Gespräch in Gang.
„Muss ich erlöst werden? Wieso?“
Sirkowsky antworte nicht, sondern drehte sich in Richtung des Sideboards um und deutete auf die Bilder.
Was für eine Ironie , dachte sie. Sie selbst, die sie Jahre auf den Gedanken verwendet hatte, sich selbst zu erlösen, nannte diesen Mann einen Psychopathen.
„Du wirst deine Familie wiedersehen. Darum fürchtest du dich nicht. Du bettelst nicht und flehst auch nicht.“
Er lächelte Frauke an.
„Ist es nicht gut, dass ich gekommen bin?“ Sirkowsky lehnte sich vor und legte seine Hand auf ihren Oberschenkel. Frauke schüttelte den Kopf.
„Nein. Ich habe Angst. Ich will leben!“
Und das war die verblüffende Wahrheit. Sie dachte fieberhaft nach, was sie noch sagen könnte.
„Ich helfe Menschen! Ja!“, sie nickte eifrig, „Ganz genau wie Sie!“ Fraukes Stimme überschlug sich jetzt.
„Meine Erlösung ist, dafür weiterzuleben. Das habe ich jetzt verstanden. Durch Sie!“
Und das war Wahrheit Nummer zwei.
Sirkowsky zog seine Hand wieder zurück. Er schüttelte den Kopf. Dann stand er auf, streichelte ihr Haar mit der einen Hand, während die andere in die Manteltasche glitt.
Frauke schluchzte und zitterte. Ihre ganze Stärke war dahin. Tränen rannen über ihre Wangen, benetzen die Bluse und den Rock.
„Bitte ...“ Sie suchte seinen Blick und sie fand ihn. Was sie in ihm erkannte war unfassbar. Es war Liebe.
-53-
Es klingelte. Gleichzeitig rissen Sirkowsky und Frauke die Köpfe herum.
„Wer ist das?“, zischte Sirkowsky.
Frauke schüttelte den Kopf.
„Ich ... ich weiß es nicht.“
Es klingelte wieder. Kurz danach klopfte es
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