SECHS
und mochten Helena, wären deshalb wohl auch nicht allzu beunruhigt, würden sie aufwachen und feststellen, dass ihre Mutter nicht da ist.
Als das organisiert war, saß Melanie Punkt zwanzig nach elf im Auto, betätigte die Zündung und machte sich auf durch den Schneesturm, zu dem sich das Wetter mittlerweile erhoben hatte.
Auf dem Weg ins Krankenhaus schossen ihr unzählige Fragen durch den Kopf. Fragen, die sie bislang erfolgreich unterdrückt hatte, sich nun aber doch Bahn brachen und wie Splitter in das Fleisch ihrer Gedanken bohrten.
Was war dran an den Dingen, die der Arzt über Frank gesagt hatte? Jetzt, da sie und das Mastodon, sie und die Wahrheit, nur noch wenige Kilometer voneinander entfernt waren, schien es ihr vielleicht doch nicht mehr gleichgültig, warum er erwacht war, sein Körper so ... was eigentlich war?
Unnatürlich?
Das war es doch, was ihr der Arzt hatte vermitteln wollen? Welchem Mann würde sie also begegnen? Ihrem Frank? Einem anderen, fremden Mann?
Plötzlich verspürte sie Wut auf diesen Doktor Waller. Er, seine Worte, waren die Splitter, die sie nun verunsicherten, geradezu blasphemische Gedanken in ihr heraufbeschworen. War es nicht ihre Pflicht, ohne Zweifel und Furcht an sein Bett zu treten, zu nehmen, was kam? Warum konnte sie sich nicht einfach nur naheliegende Fragen stellen? Hat er Schmerzen? Muss er leiden und wie viel davon hat er noch vor sich?
Und was war mit der Freude darüber, dass Frank, kaum dass er erwacht war, nach ihr verlangt hatte, ja, dass er das überhaupt konnte? Das waren doch die Fragen und Gefühle einer Ehefrau! Nicht diese Gedanken-Implantate, erwachsen aus dem Samen einiger Worte, deren Wahrheitsgehalt sie ohnehin nicht überprüfen konnte.
Frank hatte zwei Tage nur etwas tiefer geschlafen. Also: Was sollte da an ihm, was sollte mit ihm nicht stimmen? Mit dieser Feststellung stieg Melanie vom Karussell und zehn Minuten später aus dem Auto.
*
„Ich möchte zu meinem Mann, Frank Brenner. Er liegt auf G1.“
Melanie stand vor der Anmeldung und schaute in das müde und gelangweilte Gesicht einer Frau, die dahinter ganz unverhohlen ihren Nachtdienst absaß. Die einzig sichtbare Arbeit leistete nur ihr Unterkiefer, der unablässig einen Kaugummi massierte.
„Tschuldigung. Aber wissen Sie, wie viel Uhr wir haben?“
Melanie nickte.
„Sicher. Herr Doktor Waller hat mich angerufen.“
„Unsere Intensiv-Besuchszeiten sind von sieben bis dreiundzwanzig Uhr. Das scheint der Herr Doktor wohl nicht zu wissen? Von dem her ...“, entgegnete die Frau.
„Seit wann das? Bisher hat es niemanden gestört, auch wenn ich nachts da war. Aber bevor wir hier lange diskutieren ... vielleicht rufen Sie ihn einfach an?“
Melanie schaute ihr fordernd in die Augen.
„Waller?“, kam es träge.
Nach kurzer Zeit des Tippens wurde sie im Computer fündig. Die Frau nahm den Telefonhörer ab und wählte eine Nummer.
Als nach ein paar Sekunden noch immer niemand abgenommen hatte, schüttelte sie den Kopf und legte wieder auf.
„Tschuldigung, aber da ist niemand mehr da. Der Doktor ist vermutlich schon zu Hause“, beschied sie knapp.
„Das kann nicht sein. Er hat mich doch erst vor kurzem angerufen!“
Die Frau hob die Augenbrauen.
„Hier, aus der Klinik?“
Auf die Nummer im Display hatte sie nun wirklich nicht geachtet und so konnte Melanie nur mit den Schultern zucken.
„Kommen Sie einfach morgen wieder. Ich darf Sie jedenfalls nicht einfach durchlassen.“
Die Frau lehnte sich vor, so dass sie ganz nah an der Scheibe war, und setzte kauend hinzu:
„Anweisung von ganz oben.“
Was jetzt? Melanie konnte das einfach nicht glauben. Da oben lag ihr Mann, wartete auf sie und hier sollte Endstation sein? Das war völlig inakzeptabel!
„Frau Brenner?“, kam es von hinten. Melanie drehte sich um. Es war Waller. Der Arzt nickte kurz an Melanie vorbei und die Frau hinter der Scheibe widmete sich umgehend ihrem Kaugummi.
„Ich bin auf dem Weg nach Hause, aber ich habe auf der Station Bescheid gegeben, damit man Sie einlässt“, eröffnete er ohne Begrüßungszeremoniell. Melanie schwieg.
„Ihr Mann ist unverändert stabil. Hin und wieder ist er ein bisschen abwesend. Nichts Dramatisches. Sie werden sich ohne Probleme mit ihm unterhalten können. Jedenfalls deutlich besser als wir.“ Er lächelte.
„Was meinen Sie damit?“
„Ich habe den Eindruck, er weigert sich mit uns zu sprechen. Denn es liegt keineswegs daran, dass er es nicht könnte.
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