Sechseckwelt 01 - Die Sechseck-Welt
alle?
»Nate!«
Er drehte sich um. Grondel lief auf ihn zu. Er war, während er nachdachte, davongegangen, fast bis zur Herde. Er lief zurück ins Lager, erstaunt über die Leichtigkeit und Schnelligkeit seiner Bewegungen, wurde aber langsamer, als er begriff, daß er sich an diese Sehweise erst gewöhnen mußte. Er rannte den Murnie beinahe nieder.
Er wollte sich entschuldigen, aber kein Laut ließ sich hervorbringen.
»Ich weiß die Antwort nicht, Nate«, sagte der Murnie mitfühlend. »Aber gewöhnen Sie sich daran, bevor Sie etwas Unüberlegtes tun. Ihr Körper ist entweder tot oder wird noch gesünder, je länger Sie ihn in Czill lassen. He! Da fällt mir gerade etwas ein. Kommen Sie da herüber zu der Staubfläche.«
Brazil folgte Grondel neugierig.
»Sehen Sie«, sagte Grondel aufgeregt und zeichnete mit dem Fuß eine Linie in den Staub. »Jetzt Sie!«
Brazil begriff. Es war mühsam und sah nicht gut aus, aber nach ein wenig Übung konnte er die Buchstaben mit dem Huf in den Boden ritzen.
»WO IST WUJU?« schrieb er.
»Sie ist hier, Nate. Wollen Sie sie sehen?«
Brazil dachte nach, dann schrieb er mit großen Buchstaben: »NEIN.«
»Warum nicht?« fragte der Murnie.
»WEISS SIE BESCHEID?«
»Ja. Ich – ich habe es ihr gestern gesagt. Hätte ich das nicht tun sollen?«
»WILL NICHT«, begann er, als er Wujus Stimme hörte.
»Nathan?« rief sie. »Bist du das wirklich?«
Er hob den Kopf und sah sie an. Sie stand da und schüttelte ungläubig den Kopf.
»Er ist es«, versicherte ihr Grondel. »Sehen Sie? Wir haben uns verständigt. Er kann Buchstaben in den Boden ritzen.«
Sie blickte auf die Spuren und schüttelte traurig den Kopf.
»Ich – ich habe nie lesen gelernt«, sagte sie beschämt.
»Schade«, knurrte der Murnie. »Hätte vieles vereinfacht.« Er wandte sich an Brazil. »Hören Sie, Nate, ich kenne Sie gut genug, um zu wissen, daß Sie nach Czill wollen, sobald Sie sich das zutrauen. Ich weiß, wie Ihnen zumute ist, aber Sie brauchen sie. Wir können nicht gehen und würden es nicht tun, wenn wir könnten. Und jemand muß wissen, daß Sie Sie sind, Sie vom Weglaufen abhalten und für Sie reden. Sie brauchen sie, Nate.«
Brazil starrte die beiden an und versuchte, seine eigenen Gefühle zu verstehen. Scham? Angst?
Nein, Abhängigkeit, dachte er.
Ich bin nie von jemandem abhängig gewesen, aber jetzt brauche ich einen anderen. Zum erstenmal in meinem Leben.
Er hing von Wuju ab, beinahe auf dieselbe Weise, wie sie zu Beginn ihrer Beziehung von ihm abgehangen hatte.
Er schrieb in den Staub: »ABER JETZT BIN ICH GRÖSSER ALS DU.«
Grondel lachte und las es ihr vor. Sie lachte auch.
Dann schrieb er: »ERKLÄREN SIE IHR DAS MIT DEM TIER.« Grondel begriff und erklärte, daß Brazil in Wahrheit zwei Wesen war – ein Mensch, ein Tier – und wie sich das tierische Verhalten auswirkte.
Sie begriff. Nachts würde er an einen Pfosten gefesselt werden müssen, damit er nicht davonlief. Und selbst konnte er das nicht machen.
Abhängigkeit. Das störte ihn, wie nie etwas zuvor, aber es war nicht zu ändern.
Er hoffte inbrünstig, daß sein Körper noch lebte.
Grondel war schließlich zusammengebrochen und lag laut schnarchend in einem Zelt.
Brazil und Wuju waren zum erstenmal allein, und er mußte die Schmach ertragen, angepflockt zu sein, damit er nicht davonwanderte.
Den ganzen Tag hatten sie daran gearbeitet, daß er sich an seinen Körper, an das veränderte Sehen, an das geschärfte Gehör und den Geruchssinn gewöhnte.
Einiges war einfacher geworden, gewiß. Sie brauchten kein Gepäck mehr, er konnte essen, was sie aß. Er konnte so schnell laufen, wie Cousin Bat zu fliegen vermochte, kurzzeitig vielleicht sogar schneller.
Wenn er nur hätte reden oder irgendeinen Laut von sich geben können.
Wuju sah ihn bewundernd an.
»Weißt du, du bist wirklich wunderschön, Nathan. Hoffentlich gibt es in Czill Spiegel.« Sie beherrschte die alte Sprache jetzt schon sehr gut. Sie kam heran, preßte ihren Leib an den seinen, begann, ihn zu streicheln.
Sein Inneres rebellierte, obwohl er sich nicht von ihr löste.
Ich werde erregt! dachte er überrascht. Und so, wie es sich anfühlte, gab es allerhand zu erregen bei ihm.
Er wollte sie aufhalten, aber statt dessen drehte er den Kopf zu ihr und wühlte mit seiner Schnauze an ihrem Hals. Sie beugte sich vor, damit das Geweih ihn nicht behinderte.
Ist es das Tier oder will ich das? dachte er dumpf, aber der Gedanke verflog als
Weitere Kostenlose Bücher