Sechseckwelt 05 - Dämmerung auf der Sechseck-Welt
Sangh,
Oberbefehlshaber,
Hauptfront Streitkräfte des
Südlichen Rates.‹
Brazil knüllte das Papier zusammen und warf es ins Feuer.
»Höflicher Mann, nicht?« meinte er mit schiefem Lächeln.
»Eine giftige Spinne oder eine hungrige Schlange«, sagte Asam schnaubend.
»Ich glaube aber, daß wir ihn bisher unterschätzt haben«, stellte Brazil fest, während er zusah, wie der Brief verbrannte. »Ich dachte eigentlich immer, Serge Ortega würde das große Problem sein, aber dieser Kerl ist Ortega ohne… ohne…«
»Gewissen?« sagte Asam.
»Ehrgefühl«, ergänzte Brazil. »Gewissen ist etwas, wovon Serge sehr wenig besitzt, aber auf seine Art ist er ein ehrenhafter Mann. Er tut, was er nach seinen eigenen Maßstäben als das richtige für jedermann betrachtet – ob es richtig ist oder nicht, ob es heilt oder tötet. Nach allem, was ich von Gunit Sangh weiß, könnte er derzeit der gefährlichste Mann sein, den es gibt. Ich bin unter meiner eigenen Art früher oft auf seine Sorte gestoßen.«
Asam sah Brazil ins Gesicht.
»Werden Sie sein Angebot annehmen?«
Brazil lächelte ohne Humor.
»Es ist immer der mühelose Ausweg, den sie einem anbieten«, meinte er nachdenklich. »Tun Sie, was ich will, und der Fall ist erledigt – bis auf … Der Vorbehalt ist immer dabei, wissen Sie. Nein, ich werde mich ihm oder Ortega oder sonst irgend jemandem nicht ausliefern. Aber keine Sorge, gleichgültig, was er behauptet, er wird sie nicht umbringen. Er sagt sich, daß das der einzige Hebel ist, den er gegen mich hat, wenn ich in den Schacht gelange – und das stimmt natürlich. Das mag aber der Punkt sein, wo er seinen Fehler begeht. Sobald ich im Schacht bin und zu dem kleinen Computerchen komme, das diesen kleinen Planeten betreibt, kann er mir und ihr und jedem anderen nichts mehr tun, aber ich kann ihm sehr viel antun. Ich bringe eine ganze Liste von Leuten zusammen, mit denen ich gerne abrechnen würde, Asam. Ich glaube, zum erstenmal lege ich Wert darauf, in den Schacht zu kommen.«
»Glauben Sie, daß Sie das können?« fragte der Zentaur ernsthaft. »Ich meine, er hält in seinem Brief doch mit nichts hinter dem Berg.«
»Es ist möglich«, erwiderte er. »Mehr als nur möglich. Wir lassen sie natürlich weiterhin raten, solange Zigeuner hier ist. Er kann es sich nicht ersparen, mit seiner großen Armee herzukommen, um mich aufzuhalten, und Zigeuner ist heute bei Yua unten, nicht nur, um sie in die Pläne einzuweihen, sondern auch, um gesehen zu werden – als ich. Das wird sie so verwirren, daß Khutir gegen sie vorrücken muß. Und ich habe noch den einen oder anderen Trumpf im Ärmel. Ja, ich glaube, ich kann hineinkommen. Ich mache mich heute abend auch auf den Weg, sobald Zigeuner wieder da ist.«
Asam schwieg kurze Zeit, dann sagte er trocken: »Heute abend« und ging zu seinem Zelt zurück, um nachzudenken.
Es gab Stabsbesprechungen, Chefbesprechungen, Tagesbefehle, Anordnungen, fast den ganzen Nachmittag hindurch, was Asam in seinem Gefühlsdilemma ein wenig nützlich war. Was nicht wirklich an dich herankann, tut dir nicht weh.
Immerhin lauerte das Unheil in einem Winkel seines Gehirns, ein dumpfer Schmerz, der nicht weichen wollte. Er hatte schon oft geglaubt, verliebt zu sein, aber jetzt wußte er, daß das alles bedeutungslos gewesen war – körperliche Anziehung oder Gefühle, die mit Liebe zu verwechseln waren, weil er das Eigentliche noch nicht erlebt und geglaubt hatte, das müsse es sein. Aber er liebte Mavra Tschang. Er wußte es, bis ins Innerste seines Wesens hinein, wußte, daß sie ihm mehr bedeutete als sein eigenes Leben, sogar als seine persönliche Ehre, die er für das Höchste gehalten hatte. Er verabscheute dieses Gefühl; aus irgendeinem Grund war er in seinen eigenen Augen kleiner geworden, weil er sich als das Opfer solcher Empfindungen entpuppt hatte, Gefühle, die er bei anderen beobachtet und nur mit Verachtung gestraft hatte.
Das schlimmste, das entwürdigendste von allem war, daß Gunit Sangh diese Verwundbarkeit erkannt, sein schleimiges Vorderbein genau auf diese Schwäche in Asams Seele gestellt und mit solchem Genuß Druck ausgeübt hatte.
Kurze, ganz kurze Zeit hatte er die Hoffnung gehegt, Brazil werde ihm die Last abnehmen, diesem Wahnsinn ein Ende machen und die Sache bereinigen. Aber nein, dieser Ausweg war verstellt. Brazil würde heute nacht versuchen, den Schacht der Seelen zu erreichen, der selbst auf dem Luftweg zwei oder drei
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