Sechseckwelt 05 - Dämmerung auf der Sechseck-Welt
zu werden. Obie war ein enger Freund gewesen, ein Begleiter, sehr lange Zeit für sie das nächste denkende Wesen, und sie vermißte ihn schrecklich. Aber er war auch eine Droge gewesen, erkannte sie jetzt, ein Zaubergeist, der einem auf ein Fingerschnalzen hin geben konnte, was man wollte oder brauchte. Die alte harte, ganz auf sich selbst gestellte Mavra Tschang war irgendwann verlorengegangen. Das war etwas Heimliches gewesen, nicht vermißt, bis es gebraucht wurde, und jetzt begriff sie, in welchem Nachteil sie sich befand.
Sie war im frühen Teil ihres Lebens eine abgeschlossene Welt für sich gewesen, ihr ganzer Stolz. Sie hatte sich durch ihren eigenen Witz und ihre Fähigkeiten nach oben gerangelt – nicht ohne eine hilfreiche Hand hier und dort, aber sie wußte, daß das für jeden im Universum galt. Aber sie hatte sich verändert. Zauberstäbe haben diese Wirkung.
Die Männer und Frauen in der Bar kamen ihr vorwiegend laut, stürmisch und flegelhaft vor. Das war natürlich immer der Fall gewesen, aber sie hatte ein solches Verhalten stets duldsam hinnehmen und so tun können, als passe sie sich an. Jetzt fiel ihr das zunehmend schwerer; das Schauspielern, um den anderen gleich zu sein, erschien ihr aus irgendeinem Grund unmöglich, das Betasten und die Avancen waren schwer zu ignorieren und förderten Gereiztheit. Sie ging möglichst rasch wieder und machte sich auf den Weg hinauf zum Gästehaus, einem großen Holzbalkengebäude mit breiter Veranda vor Hafen und See.
Im Inneren war es sehr hübsch; das ganze Erdgeschoß lag offen, man sah nur die mächtigen Deckenbalken und an jedem Ende und in der Mitte einen Kamin, deren Abzugsschächte in der Decke verschwanden. Die Räume teilten sich hinter der Gemeinschaftshalle in zweistöckige Flügel auf, klein und einfach, aber allen Bedürfnissen entsprechend. Die Dillianer schliefen im Stehen, obwohl sie sich, wenn sie sich ausruhen wollten, gern anlehnten, und es gab dafür einen Bereich mit zwei gepolsterten Geländern, außerdem ein Becken mit laufendem Quellwasser, einem Krug und Tüchern für das Waschen. Die Gemeinschaftslatrine befand sich unten an der Halle: eine Anzahl von Kabinen, in die man sich rückwärts hineinschob. Nichts Besonderes, aber ausreichend.
Zwischen den beiden Flügeln gab es den Eßraum, versehen mit Schildern, die sie nicht lesen konnte, die aber von einer freundlichen Person als die Bedienungszeiten nach der Zimmernummer übersetzt wurden. Die im Grunde vegetarischen Dillianer bereiteten ihre Pflanzen auf tausenderlei verschiedene und köstliche Weise zu, heiß und kalt und stets stark gewürzt. In diesem Waldland würde niemals jemand verhungern, was auch geschehen mochte. Im Notfall konnten alle Dillianer praktisch sämtliche Pflanzen essen, inklusive Gras und Laub, selbst wenn der Geschmack manchmal zu wünschen übrigließ.
Sie verbrachte einige Tage auf diese Weise, wanderte oft die Waldwege entlang, blickte auf die Berge und versuchte das alte Ich zu finden, das sie jetzt so dringend brauchte. Einmal war sie stolz auf die Vereinzelung gewesen, hatte es genossen, völlig allein und auf sich gestellt zu sein. Sie glaubte, das sei immer noch so, konnte aber das Gefühl völliger Vereinsamung unter diesen schlichten Leuten nicht loswerden. Der Unterschied lag zum Teil darin, sagte sie sich, daß sie jetzt für die Zwecke eines anderen tätig war – aber nein, sie hatte stets Aufträge von anderen angenommen und sie immer ausgeführt. Immerhin, es war ihr Plan gewesen, ihre Vorbereitung. Selbst bei Obie hatte sie das Gefühl gehabt, unabhängig zu sein, zu tun, was sie wollte, wie sie es tun wollte.
Was mochte sich in ihr verändert haben? fragte sie sich. War es bei den Leuten genauso wie mit diesem Hex, diesem Dorf? Kleine Veränderungen, wenn man älter wurde, während ringsum sich alles bis zur Unkenntlichkeit veränderte? Hatte sie sich so sehr verändert, daß sie nicht mehr über die Mittel verfügte, eine Aufgabe zu bewältigen?
Das war es natürlich. Das Werkzeug fehlte, und es war nicht nur etwas Gegenständliches, sondern auch etwas Geistiges. Extremes Selbstbewußtsein war unabdingbar, aber man brauchte auch das gesellschaftliche Rüstzeug, um von jedem, der notwendig war, zu erhalten, was man von ihm haben mußte. Das war es, was ihr Leben mit Obie ihr genommen hatte: der Instinkt, die Leute wie die Ereignisse nach ihrem Willen zu formen. Sie hatte das nicht gebraucht; Obie hatte alles erreichen können. Sie
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