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Sechselauten

Sechselauten

Titel: Sechselauten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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Eschenbach seinen Gipsfuß durch die Jeans, streifte sich das schwarze T-Shirt über, das er zum Auslüften vors Fenster gehängt hatte, und humpelte nach draußen.
    Vor dem Aufzug im Flur sortierte er seine Krücken, und beim Hinunterfahren kam ihm in den Sinn, dass er vergessen hatte, die Zähne zu putzen. Er hauchte prüfend in die vorgehaltene Hand.
    »Mr Eschenbach?« Die zierliche Frau sah ihn fragend an. Sie stand bei der Rezeption und trug einen dunklen Business-Anzug mit Nadelstreifen. Eschenbach schätzte sie auf Anfang sechzig.
    Eschenbach nickte.
    »Ich bin Ira Wendersley, Laras Assistentin. Wir sind draußen.«
    Der Wagen wartete auf dem Gehsteig. Es war ein dunkelblauer Mercedes mit getönten Scheiben. Der Chauffeur, ein blasierter Schlaks, hielt Eschenbach den Schlag auf. Der Kommissar hatte plötzlich den Eindruck, zu spät dran zu sein.
    Nachdem Ira vorne neben dem Fahrer Platz genommen hatte, setzte sich der Wagen beinahe geräuschlos in Bewegung.
    Von Lara, die auf dem Nachbarsitz saß, kam nur ein Nicken, das der Kommissar ebenso zurückhaltend erwiderte. Er hatte ausreichend Platz im Fond. Eschenbach streckte die Beine. Ihm fiel auf, wie häufig das Augenpaar des Fahrers im Rückspiegel auftauchte. Als er sich einmal Lara zuwendete, reagierte sie nicht. Wenn er nur ihr Gesicht hätte sehen können. Ein Zucken der Wangen oder Augenbrauen, die sich hoben.
    Man hatte Laras Verband gewechselt. Das war alles, was er erkennen konnte. Hatte sie wirklich damit gerechnet, er würde in England bleiben?
    Straßenzüge viktorianischer Häuser zogen schweigend an ihnen vorbei.
    »Für Ascot bin ich underdressed«, sagte Eschenbach nach einer Weile. Die Stille im Wagen war ihm unerträglich, zudemwar er neugierig, wohin die Reise ging. »Aber so, wie’s aussieht, bleiben wir in der City.«
    »Finsbury Avenue«, sagte Ira. »Wir sind gleich da.«
    Der Wagen hielt vor einem großen Gebäude, in dessen gläserner Fassade sich der Himmel spiegelte. Zwei Männer standen links und rechts vom Eingang; sie starrten geradeaus. Es war dieser idiotische Blick zum Horizont, den man nur hatte, wenn er einem befohlen wurde. »Blick geradeaus!« Man lernte ihn beim Militär oder bei den Elitetruppen der Polizei.
    Eschenbach hatte sich immer gefragt, warum gerade Wachen und Soldaten diesen Unsinn praktizierten. Erwarteten sie wirklich, die Gefahr käme von vorne und ganz langsam auf sie
zu?
    Am gläsernen Eingangsportal stand in kleinen, silbernen Lettern: Goldmann Investments Ltd. Der Kommissar konnte die Schrift erst lesen, als er direkt davor stand.
    Mit einem »Klack« begannen sich die gläsernen Türen automatisch zu öffnen.
    »Du kommst spät«, sagte der Sicherheitsmann. Paresh Singh stand allein in der Halle. Er hatte den hellen Anzug gegen einen dunklen getauscht, das ließ ihn finsterer wirken als sonst.
    »Schon recht«, erwiderte Lara. »Wir verschwinden gleich wieder.« Und zu Ira Wendersley, die ihr nicht von der Seite gewichen war, meinte sie: »Ist schon gut, Ira. Wir gehen alleine.«
    Mit dem Aufzug fuhren sie sieben Stockwerke hinunter ins Erdreich. Plötzlich hatte Eschenbach ein ungutes Gefühl, als schnüre ihm die Tiefe, in die sie beide hinunterglitten, die Kehle zu. Vor seinen Augen flimmerte es. Lara stand mit einem Mal ganz nah bei ihm. Ihr Mund war groß geworden und bewegte sich wie ein großer Schlund:
    »Die behüten mich hier wie ein Kind.«
    Es waren die ersten Worte, die sie an diesem Morgen zu ihm sagte. Sie klang verärgert.
    Als sie im untersten Stock des Gebäudes angelangt waren undaus dem Aufzug in einen breiten Gang traten, war das Licht bereits eingeschaltet. Altmodische Neonröhren hingen an der Betondecke und leuchteten die Reihen aus, die sich zwischen mannshohen, metallenen Schrankregalen wie Schluchten nach hinten verjüngten.
    Eschenbach schaute sich um. Das Archiv. Ein Heiligtum. Auf vergilbten Etiketten standen in schwarzer Tusche die Jahreszahlen 1911 , 1912 , 1913 und so weiter.
    »Von hier unten brauchen wir eigentlich nie etwas. Das ist für die Ewigkeit. Und da hinten …«, Lara deutete mit der Hand in einen entfernten Winkel des Raumes, »geht es weiter. Noch mehr Räume, noch mehr Papier … Und in einem dieser Räume liegen sogar die ersten Dokumente der Firma. Gründungsurkunden und die Geschäfte der ersten Kunden.« Am Ende eines langen Korridors zögerte Lara. »Es muss irgendwo hier sein.«
    Eschenbach las die Jahreszahl 1945 . »Was suchen wir eigentlich?«,

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