Second Face
sie das. Hauptsache, sie wird dabei nicht selber mitgefressen.
8
Die Tage schleichen vorüber. Aber endlich ist dann doch der ersehnte Freitagabend da. Marie hält es vor Aufregung kaum noch aus. Sie ist froh, dass der Rest der Familie lange vor ihr aus dem Haus gehen wird, damit sie sich in Ruhe und ohne dass es auffällt, zurechtmachen kann. Die Eltern gehen zu Freunden zum sommerüblichen Grillen, Anne ist mit ihrem neuen Typen in der Disco im Camp verabredet. Sie verbringt Stunden im Bad mit ihrem Make-up, probiert immer neue T-Shirts aus und entscheidet sich dann ausgerechnet für den hellblauen Pullover aus Maries Kleiderschrank, den Marie bei ihrem ersten Treffen am Strand mit Lirim angehabt hat und den sie eigentlich auch diesmal anziehen wollte.
»Wie findest du mich?« Anne dreht sich vor Marie. Die Zwillinge haben ganz unterschiedliche Sachen in ihren Kleiderschränken, tauschen aber untereinander alles aus, sodass sie im Grunde den Vorrat von zwei Schränken zur Verfügung haben.
Es kommt nur ganz selten vor, dass eine genau das anziehen will, was die andere schon ausgesucht hat. Ausgerechnet an diesem Abend …
Marie schluckt ihre Enttäuschung hinunter und sagt stattdessen: »Du siehst richtig irgendwie sehr … sehr … smexy aus!«
»Smexy? Ist das was zum Essen?«
»Hat Marta neulich bei Facebook geschrieben. Smexy ist smart und sexy.«
Anne lacht laut, zu laut für Maries Geschmack. »Willst du nicht doch mitkommen? Dann zeig ich dir auch den Typenvon gestern. Mein erstes Opfer. Du könntest mir helfen, ihn zu verarschen.«
Marie schüttelt den Kopf. Selbst wenn sie nicht mit Lirim verabredet wäre, möchte sie nicht dabei sein, wenn Anne ihren Racheplan durchführt, und erst recht nicht als aktiver Teil des Plans.
Ein wenig besorgt betrachtet sie die total aufgedrehte Schwester. Auch die Eltern machen sich Sorgen. Sie wollen unbedingt, dass Marie Anne begleitet.
Marie protestiert. »Ich hab keinen Bock auf Disco! Außerdem kenne ich da niemanden.«
»Na gut«, sagt der Vater schließlich, nachdem er Annes Outfit eine Weile schweigend studiert hat. »Dann geht Anne auch nicht.
»Paps! Das kannst du nicht machen! Ich brauche keinen Aufpasser!«, schimpft Anne empört. »Ich bin fast erwachsen.«
»Genau! Wie war das noch heute Morgen: Mit einem Jungen herumspielen! Sehr erwachsen klingt das! Und schau dich doch mal an! Also entweder Marie begleitet dich zum Camp oder du bleibst auch zu Hause.« Nur sehr selten redet der Vater so energisch mit seinen Zwillingen, aber wenn er es einmal macht, ist jeder Protest nutzlos.
Was bleibt Marie also anderes übrig, wenn sie nicht den ganzen Abend mit einer wütenden Schwester zu Hause verbringen will? Bis zum Sonnenuntergang ist zum Glück noch Zeit.
Die Zwillinge machen sich sichtlich genervt auf den Weg. Sobald sie den Hof verlassen haben, sagt Anne: »Du musst nicht mitkommen. Ich verspreche dir, mich gut zu benehmen.«
»Vater hat gesagt, ich soll dich bis zum Camp begleiten.
Bis
, aber nicht
ins
Camp, und er hat auch nicht gesagt, dass ich die ganze Zeit da bleiben muss.« Marie grinst ihre Schwester an.
»Wow! Was hast du denn noch vor heute Abend?« Solche Tricks sind sonst immer Annes Revier. Zum Glück für Marie glaubt Anne aber nicht wirklich, dass ihre Schwester für den Abend anderes plant, als sich mal wieder an ihrem Computer in irgendwelchen Rollenspielen zu verlieren. »Willst du nicht doch lieber mitkommen? Ich meine nicht als Aufpasserin, aber so zum Spaß?«
Marie schüttelt den Kopf. Bei der Vorstellung von Spaß gehen die Wege der Zwillinge ganz weit auseinander, trotz aller äußerlichen Ähnlichkeit.
»Pass auf, mit wem du dich einlässt! Sonst haben wir morgen richtig Ärger und für die nächsten Wochen Hausarrest!«, sagt Marie zum Abschied. Ein wenig besorgt sieht sie der Schwester nach, die fröhlich winkend, ohne sich noch einmal umzusehen, auf den Schuppen zuläuft, aus dem laute Musik und fröhliches Lachen schallen.
Wieder zu Hause angekommen steht Marie eine halbe Stunde vor beiden Schränken und kann sich nicht entscheiden. Noch nie hat sie so viel Zeit für das Ankleiden verschwendet. Sie probiert alle möglichen Kombinationen durch, bis ihr Bett voll Kleidung ist.
Noch eine halbe Stunde bis zum Sonnenuntergang. Marie beschließt, dass es nicht so wichtig ist, was sie anhat. Schließlich ist sie ja kein »Lackhuhn«. Diese Rolle überlässt sie besser Anne. Sie zieht ihre alte Jeans wieder an und ein
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