Second Face
doch noch wundern dürfen! Vor vier Wochen noch war Ummanz das letzte Ende der Welt und nun lässt sie sich hier zur Königin krönen. Normal ist das nicht!«
Anne lacht. »Noch bin ich das nicht. Erst heute Abend entscheidet es sich.«
Zum ersten Mal seit Langem wird das Frühstück wieder eine fröhliche Angelegenheit. Wie immer hängt das Stimmungsbarometer von Annes Laune ab und die könnte heute nicht besser sein. Den traurigen Unterton in Maries Lachen hört niemand.
Nach dem Frühstück zieht Anne ihre Schwester nach oben.
Auf ihrem Bett liegt der ärmellose Overall, den Anne bei der Aufführung auf dem letzten Schulfest in ihrer alten Schule getragen hat. Er ist aus weißer Seide und durchzogen von farbigen Linien, die aussehen wie die Meereswellen. Marie besitzt den gleichen Overall aus grüner Seide. Wie eine zweite Haut schmiegt sich der Seidenstoff an den Körper an, was den Vater damals zu einem entsetzten Protest veranlasst hat.
»Weißt du noch, wie wir beide …?« Anne schaut Marie erwartungsvoll an.
Marie nickt. Sie waren die Stars des Abends damals. Undvielleicht hat Kai an dem Abend den Plan gefasst, Anne auf seine Liste zu setzen.
»Weißt du, zu welchem Lied die beiden Finalistinnen tanzen müssen?«, unterbricht Anne Maries dunkle Gedanken.
»Keine Ahnung. Ich bin gestern nicht ganz bis zum Schluss geblieben.«
»Du kennst das Lied!«
»›Dancing Queen‹? ABBA?«
»Genau das! Unser Lied von damals! Und darum habe ich mir gedacht, wir könnten …«
»Wir ...?« Erst jetzt versteht Marie, was die Schwester meint. »Nein! Vergiss es! Da mache ich nicht mit.«
»Bitte, Marie! Es ist wichtig für mich!«
»Aber …«
»Wir haben den ganzen Tag zum Üben. Was glaubst du, was die für Augen machen werden? Nicht nur die Jury!«
Die Jury.
»Ist es die gleiche wie gestern?«
»Klar doch. Samstag war einer ausgefallen, dafür ist dann kurzfristig Lirim eingesprungen.«
Marie zuckt zusammen, als Lirims Name so plötzlich im Raum steht. Deshalb ist er nicht an den Strand gekommen und wird auch heute nicht kommen. Wenn sie ihn sehen will, dann muss sie so oder so heute Abend zum Camp. Und sie muss ihn unbedingt sehen und sprechen. Sie müssen ihre Handynummern austauschen, damit so etwas nicht noch einmal vorkommt.
Das gibt den Ausschlag.
»Also gut!«
Den ganzen Tag üben sie, Anne mit voller Begeisterung, Marie zunächst sehr zögerlich, aber dann lässt auch sie sich von Anne anstecken. Sie drehen sich Locken in die Haare, singen und lachen und sind sich nahe wie schon lange nicht mehr.
Morgen wird sie Anne von Lirim erzählen, beschließt Marie in diesen Stunden. Morgen, wenn sie mit Lirim gesprochen hat. Morgen, wenn sie mit ihm den Sternenhimmel am Strand betrachtet hat.
Der Auftritt soll für alle völlig unvorbereitet kommen. Daher gehen die Zwillinge getrennt los. »Komm um acht zum hinteren Eingang. Der ist direkt an der Bühne. Ich lass dich rein.«
Marie hat ihre hochhackigen Schuhe in einer Plastiktüte, über den Hosenanzug hat sie einen langen Mantel gezogen. Sie ist furchtbar aufgeregt. Nicht so sehr, weil sie sich vor dem Auftritt fürchtet. Anne und sie sind ein eingespieltes Team, da wird schon nichts schiefgehen.
Etwas anderes geht ihr durch den Kopf. Anne war schon weg, sonst hätte sie sie fragen können: Lirim hat doch gestern Anne gesehen. Ist ihm die Ähnlichkeit nicht aufgefallen? Doch dann fällt ihr ein, dass Anne ja gestern eine schwarze Perücke trug und selbst für Marie sehr fremd aussah.
Mit klopfendem Herzen wartet Marie am hinteren Eingang. Es ist dunkel hier.
Von vorne hört sie die fröhlichen Stimmen des Publikums. Sie alle sind gespannt auf den Ausgang des Finales. Die zweite Finalistin heißt Margarita, ist sechzehn Jahre alt, auf Ummanz geboren und hat schon im letzten Jahr gewonnen. Anne und Marie kennen sie von den gemeinsamen Busfahrten zur Schule. Zusammen mit Tobias gehört sie zu den Anführerinnen der Ummanzen und heizt immer wieder die Stimmung gegen die Zwillinge an, wofür Anne ihr leider jede Menge Gelegenheiten bietet. Und wenn die Jury nur aus Ummanzen bestehen würde, hätte Anne sicher keine Chance.
Die Tür wird geöffnet. Annes lächelndes Gesicht schaut heraus. »Los, komm. Wir sind jetzt dran.«
Anne drückt ihr das zweite Mikro in die Hand. Und danntreten sie nebeneinander auf die Bühne. Für einen Moment herrscht im Publikum verblüfftes Schweigen. Damit hat keiner gerechnet. Anne, die von vielen als Favoritin
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