Second Face
den Unterricht, Anne schaut ihr besorgt entgegen. »Wo warst du denn? Was hast du mit deinem Knie gemacht?«
»Bin gestolpert! Halb so schlimm.« Sie ist froh, als der Lehrer strafend herüberblickt, und setzt sich an ihren Platz.
In den nächsten Tagen meidet Marie in den Pausen die Clique um Anne. Oft setzt sie sich am anderen Ende des Schulhofes mit einem Buch auf eine Bank. Als sie wieder einmal alleine dort sitzt, kommt Tom herangeschlendert. »Na, so ganz alleine? Zoff mit der Drama-Queen?«
Marie muss grinsen, obwohl ihr danach eigentlich nicht zumute ist. Drama-Queen. Tom hat zum Glück keine Ahnung, wie gut dieser Namen zu Anne passt. Das Schlimme ist nur, dass Anne keine Ahnung hat, welches Drama sie diesmal angerichtet hat. Während sie schon nach dem nächsten Opfer Ausschau hält, kann Marie den Gedanken an Lirim nicht ertragen, ohne dass sie am liebsten losheulen würde. Sie hat lange überlegt, ob sie Anne von ihrem Wochenende mit Lirim erzählen soll. Aber sie hat Angst, dass Anne ihr auch noch die Erinnerung an die schönen Momente zerstören könnte, und Marie hat doch nur die Erinnerung.
»Tanzen kann sie ja echt gut, deine Schwester! Aber ganz ehrlich, du bist noch besser!«, hört sie Toms Stimme neben sich.
In diesem Moment kommt Anne dazu. Sie macht große erstaunte Augen, als sie Marie in freundlichem Gespräch neben Tom sitzen sieht. »Hier steckst du! Ich suche dich schon überall.« Und mit einem empörten Blick auf Tom: »Was macht der denn hier? Belästigt er dich?«
»Die Drama-Queen, wie wir sie alle lieben!« Tom steht lachend auf. »Aber keine Sorge, ich wollte gerade gehen.« Er zwinkert Marie zu und geht.
»Seid wann seid ihr denn dicke Freunde?« Anne setzt sich neben Marie auf die Bank. »Hab ich da was verpasst?«
»Und wenn schon! Du bist ja immer so beschäftigt mit der Suche nach einem neuen Opfer für deine Rache.« Marie kann die Schwester nicht mehr ertragen. Sie steht auf und läuft hinter Tom her. Anne schaut ihr verwundert hinterher.
»Tut mit leid!«, sagt Marie zu Tom. »Manchmal ist sie …«
»… einfach nur ätzend?«
Marie nickt.
»Kenn ich, hab ’nen älteren Bruder, der kann ein echt guter Kumpel sein, aber meistens ist er tierisch nervig. Einfach ignorieren. Du nimmst die Drama-Queen viel zu ernst! Die zickt doch nur ’n bisschen rum, alles heiße Luft.«
Schön wär’s, denkt Marie. Leider ist es mehr als heiße Luft.
»Hey, jetzt guckst du schon wieder so traurig. Auf der Bühne am Sonntag, da hast du gestrahlt. Du musst mehr unter Menschen! Was ist los mit dir?«
»Manchmal ist einfach alles beschissen, das ganze Leben … eben einfach alles!« Kaum hat sie es ausgesprochen, möchte sich Marie am liebsten die Zunge abbeißen.
»Oha!«, macht Tom und schaut sie nachdenklich an. »Das klingt nach einer echten Krise. Vielleicht solltest du mal Pause machen von deinem Leben. Einfach mal aussteigen.«
Es tut Marie gut, dass Tom ihr zuhört, auch wenn sein Vorschlag verrückt ist. »Toll, wie soll das denn gehen? Nichts, was ich lieber täte. Ich hasse mein Leben. Und ich würde gerne so sein wie …« Sie stockt.
»Anne? So lustig und abgefahren und zickig?«
Marie schweigt. Sie will einfach nur ein wenig lockerer sein. Alles nicht so ernst nehmen. Aber das ist leichter gesagtals getan. Wenn es Anne wenigstens ein wenig leidgetan hätte, aber sie ist noch aufgedrehter als sonst. Nachmittags verschwindet sie zu ihrem Surfkurs und ihren neuen Freunden ins Camp und bemerkt überhaupt nicht, wie Marie immer stiller wird und die Nachmittage alleine auf ihrem Zimmer verbringt.
Tom betrachtet sie von der Seite. »Ich mag dich so, wie du bist. Und wenn du neue Freunde suchst, dann hätte ich ’nen heißen Tipp für dich. Es gibt einen Ort, wo du sehr schnell Freunde findest, tolle Gespräche. Und wenn du genug von ihnen hast, dann loggst du dich einfach wieder aus. Keiner nimmt es dir übel, keiner kann dich verletzen. Es ist einfach genial.«
Marie versteht kein Wort.
»Schon mal was von Second Life gehört?«
Marie nickt. »Das sind so Freaks im Internet, die spielen richtiges Leben.«
»Man sollte nie über was reden, von dem man keine Ahnung hat. Second Life ist ganz anders. Es ist genau das, was du brauchst. Du kannst dich neu erfinden und das tun, was du schon immer wolltest.«
»Nicht noch ein Rollenspiel. Davon habe ich genug! Die helfen auch nicht wirklich.«
»Kein Spiel. Es ist eine zweite Realität. Überleg’s dir. Wenn du
Weitere Kostenlose Bücher