Second Face
willst, führe ich dich dort ein.«
13
Marie hebt den rechten Arm, kneift ein Auge zu, zielt kurz und schleudert dann den Pfeil mit einer heftigen Bewegung auf das Gesicht ihrer Schwester, das ihr aus vier Metern Entfernung fröhlich zulächelt. Der Pfeil bohrt sich in die Mitte der Stirn, wo er noch ein wenig nachfedert.
»Volltreffer! Exitus!«
Sie nimmt einen zweiten Pfeil vom Tisch, hebt den Arm, zielt erneut, als sie plötzlich Schritte auf der Treppe hört.
Für einen Moment verharrt Marie regungslos, Entsetzen im Gesicht. Dann schnellt sie vor, reißt das Foto von der Zielscheibe und stopft es in ihre Hosentasche.
Keine Sekunde zu früh.
Die Tür wird aufgerissen und ihre Schwester schaut herein. »Hier versteckst du dich!«, ruft sie fröhlich. »Ich such dich überall. Du wolltest doch mitkommen.«
Marie schüttelt den Kopf, ohne ihre Schwester anzusehen. »Wollte ich gar nicht! Keinen Bock auf Disco!« Sie hebt den Arm und schleudert ihren Pfeil auf die Zielscheibe. Wenn dort das Gesicht noch kleben würde, hätte der Pfeil den Mund durchbohrt, diesen ewig lächelnden Mund.
Sie schleudert einen dritten Pfeil ab und einen vierten.
»Marie! Was ist los mit dir?«
»Ich muss mein Referat noch schreiben …«
»Am Freitagabend? Du spinnst doch! Wer macht am Freitagabend Hausaufgaben?«
»Ich.«
»Seit wann das denn? Doch nicht am Freitag! Wir haben immer Party gemacht.«
Marie beachtet sie nicht weiter. Monatelang hat es Anne nicht interessiert, was sie am Wochenende gemacht hat. Als sie noch in Hamburg wohnten, ist sie mit ihrer Clique um Kai losgezogen, hier auf Ummanz hat sie die Leute vom Camp.
Das »immer«, von dem Anne spricht, gibt es schon lange nicht mehr.
Am Nachmittag hat Marie es noch einmal im Jugenddorf versucht, aber der Leiter dort hat sie kurz abgefertigt. »Lirim? Der ist zurück nach Stralsund. Sein Semester hat angefangen.«
Marie hat allen Mut zusammegenommen: »Haben Sie seine Handynummer?«
»Hab ich, aber die gebe ich nicht heraus. Und schon gar nicht an eins von euch Mädels. Du bist doch eine von den Zwillingen, oder? Die den Tanzwettbewerb gewonnen haben?«
Marie hat genickt.
»Dann vergiss das mit der Nummer. Und am besten verschwindest du von dem Grundstück, ehe du einem weiteren meiner Mitarbeiter den Kopf verdrehst. Das war schon eine fiese Nummer, die ihr mit Lirim abgezogen habt. Der arme Kerl ist ganz fertig. Er hatte sich wirklich verliebt, aber nun weiß er nicht mal, in welche von euch beiden. Und ihr habt ihn nur verarscht! Schämen solltet ihr euch!«
»Aber das war …«
»… eine ganz fiese Nummer. Das sagte ich bereits. Und nun mach ’nen Abgang!«
Marie ist nicht nach Party. Sie ist wütend und vor allem sehr traurig. Schon beim kleinsten Anlass schießen ihr die Tränen in die Augen. Fröhliche Menschen kann sie zurzeit gar nicht ertragen, vor allem nicht, wenn sie Anne heißen.
Anne beobachtet, wie die Schwester einen Pfeil nach demanderen auf die Zielscheibe schleudert. Sie sieht, dass Marie ziemlich neben der Spur steht, aber warum das so ist, kann sie sich nicht erklären.
Sie macht einen Schritt auf Marie zu, legt den Arm um sie. »Was ist los? Marie, rede mit mir.«
Marie holt tief Luft. »Ich war noch mal im Jugenddorf. Ich wollte die Handynummer von …«
»O nee, doch nicht von diesem Lirim.« Anne verdreht die Augen. »Hör mir auf mit dem Typen! So ein Weichei! Du hättest mal sehen sollen, wie dem die Augen aus dem Kopf fielen, als ich ihm sagte, es ist vorbei. Dabei hatte es ja noch nicht mal richtig angefangen. Komm mit, Marie! Es gibt genügend tolle Typen im Camp.«
Marie schüttelt nur den Kopf. »Ich mag heute nicht.« Bloß jetzt nicht weinen, denkt sie. Anne wartet noch einen Moment. Dann geht sie leise zur Tür hinaus.
Marie horcht auf die Schritte der Schwester, die sich nach oben entfernen. Dann holt sie das Foto aus ihrer Tasche, glättet es sorgfältig und heftet es erneut auf die Zielscheibe. Als sie oben die Haustür zuschlagen hört, ist das Gesicht auf ihrer Zielscheibe von spitzen Pfeilen so durchbohrt, dass man die Züge nicht mehr erkennen kann.
Es hilft ein wenig gegen die Wut und die aufsteigenden Tränen.
Bevor sie den Hobbyraum verlässt, nimmt sie das Foto ab und zerreißt es in viele kleine Stücke. Leise schleicht sie die Treppe hinauf.
Im Flur trifft sie auf ihren Vater, der ein Tablett mit den unterschiedlichsten Würstchen und Fleischsorten balanciert.
»Willst du nicht mit uns
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