Seefeuer
verstehen.
»Ich muss dich dringend sprechen, Jörg. Gleich! Es ist
wichtig.«
»Weißt du, dass heute Sonntag ist, Mädchen?« Matuschek
liebte es, ihre eigenen Worte gegen sie zu verwenden.
»Das hat dich heute früh auch nicht gestört. Also wann
und wo?«
Kurzes Schweigen. »Wenn’s denn unbedingt sein muss …
in einer halben Stunde im Café Walker.«
Sie legte auf, zog eine Jacke über, steckte die
Notizen in ihre Umhängetasche und verließ die Wohnung.
***
»Unglaublich!«
Matuschek war beim Lesen aus allen Wolken gefallen. Als Karin in dem schicken
und meist überfüllten In-Café an der Seepromenade angekommen war, hatte er sich
von einer Gruppe aufgekratzter Leute gelöst und sich mit ihr in eine etwas
ruhigere Ecke verzogen.
»Meine Rede«, pflichtete sie ihm bei und sammelte ihre
Unterlagen wieder ein. »Wenn ich seine verschlüsselten Vermerke richtig deute,
hat Weselowski in mindestens drei Fällen Abtreibungen an jungen Mädchen
vorgenommen. Illegal natürlich. Und rate mal, wer dazugehörte?«
»Spuck’s schon aus.«
»Hier!« Sie legte ihm ein weiteres Blatt hin.
Matuschek starrte auf den Namen. Seinem Gesicht war
anzusehen, dass er wusste, um wen es sich handelte. »Das ist doch … das ist
doch diese …«
»Ganz recht: Tamara Reich, die tote Taucherin,
Schülerin am Bodensee-Internat. Qualle hat mal wieder ganze Arbeit geleistet!«
»Aber das hieße ja …« Er stockte.
»Du sagst es! Er kannte Tammy. Gut genug, um sich
ihretwegen strafbar zu machen. Es wäre sogar möglich, dass er mit der
Abtreibung einen Fehler beseitigt hat, den er selbst verursachte, meinst du
nicht? Und jetzt verstehst du hoffentlich, warum ich dich so dringend sprechen
wollte. Gleich morgen früh werde ich den sauberen Herrn Doktor damit
konfrontieren. Sieht ganz so aus, als stünden wir vor einer höchst brisanten
Story …«
»… und als wäre an dem anonymen Schreiben doch
was dran!«
4
Auf dem Weg vom Parkplatz zum Eingang der
Bodan-Klinik erhaschte Karin Winter einen kurzen Blick hinunter auf den See.
Die Aussicht war atemberaubend! Welchem Leiden man den Aufenthalt in der Klinik
auch verdanken mochte – dieses Panorama würde die Gesundung von Körper und
Seele zweifellos fördern.
Noch ehe sie Gelegenheit hatte, diesen Gedanken zu
vertiefen, fand sich Karin in einer pompösen Empfangshalle wieder. Die
Ausstattung stand dem Seeblick in nichts nach, Marmor, Seidentapeten und
Tropenhölzer schienen die bevorzugten Materialien zu sein. Der links vom
Eingang platzierten, indirekt beleuchteten Empfangstheke schloss sich ein Lift
an. Die gegenüberliegende Wand wurde von einer Gruppe weich geschwungener
naturfarbener Ledersessel eingenommen, denen man mehrere dekorative Pflanzen
beigestellt hatte, den Boden bedeckte ein dezent gemusterter Teppich. An den
Wänden brachte eine Handvoll Bilder mit abstrakten Motiven etwas Farbe in den
Raum. Ein langer Gang mit zahlreichen Türen führte von der Empfangshalle nach
hinten, an der Decke hängende Schilder wiesen dezent zu den einzelnen
Behandlungszonen. Wie Nebel im Herbstwald waberte über allem ein Klangschleier
aus meditativer Musik.
Karin steuerte zielstrebig auf den Empfangsschalter
zu, hinter dem eine weiß gekleidete Endfünfzigerin mit modischer Kurzhaarfrisur
und Designerbrille thronte und mit wachsamen Augen die vorübergehenden
Angestellten und Patienten zu kontrollieren schien.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie etwas von oben
herab.
»Gerne. Mein Name ist Karin Winter. Ich komme vom
›Seekurier‹ und möchte zu Dr. Weselowski.«
»Tut mir leid, der Chef ist noch nicht im Haus. Haben
Sie einen Termin?«
»Nein.«
»Dann bezweifle ich, dass er Zeit für Sie hat.«
»Er hat, glauben Sie mir – wenn er erst weiß, worum es
geht. Wann erwarten Sie ihn denn?«
Spätestens jetzt hatte die Bebrillte das Interesse an
der neugierigen Besucherin verloren. Sie sah auf die Uhr, ehe sie sich einen
letzten Satz abrang: »Er müsste jeden Moment eintreffen. Aber wie gesagt …«
»Gut, dann warte ich draußen«, fiel ihr Karin ins Wort
und drehte sich demonstrativ um. Sie verließ die Empfangshalle und ging die
Treppe zum Parkplatz hinunter. Für das leitende Personal der Klinik waren neben
dem Eingang spezielle Parkplätze reserviert. Der Platz mit dem Schild »Dr.
Weselowski« war leer, der Empfangsdrachen hatte also nicht gelogen.
Karin setzte sich in ihr Auto, das sie auf einem der
Besucherparkplätze abgestellt hatte. Sie machte
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