Seefeuer
er
war ja nicht allein! Der Gedanke daran hatte etwas Beruhigendes. Hätte er
allerdings geahnt, welche Prüfungen ihn an diesem Tag noch erwarteten, er hätte
wohl gleich die ganze Flasche geleert.
***
Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage
fuhren Wolf und Jo die Kiesauffahrt zum Bodensee-Internat hoch. Wieder empfing
sie von Carlfeld, der stellvertretende Schulleiter. Nach einer kurzen
Unterredung wies er seine Sekretärin an, Tamaras Bruder zu holen, und führte
sie in Philips Zimmer, das dieser im Obergeschoss des B-Traktes mit zwei
Mitschülern teilte. Wolf war überrascht von der Enge des Raumes. Jedem der
jungen Männer stand ein Bett, ein zweitüriger Schrank und ein Arbeitstisch samt
Stuhl zur Verfügung. Auf jedem Tisch stand ein Computer, dahinter erhob sich
ein Regalaufsatz mit Zwischenböden, auf denen Wolf Bücher, Zeitschriftenstapel
und die unterschiedlichsten Gerätschaften, in einem Fall sogar einen Topf mit
einer jungen Papyrusstaude, bemerkte. Es sah aus, als habe die Einrichtung
bereits Generationen von Schülern gedient: Alles war sehr solide, fast für die
Ewigkeit gebaut, wenngleich gewisse Spuren von Abnutzung nicht zu übersehen
waren. Auch schien die Enge System zu haben, zwang sie die Heranwachsenden doch
zu einer ökonomischen Organisation ihrer Umgebung und ihres Tagesablaufs.
Während Wolf auf einem Stuhl Platz nahm und seine
Augen durch den Raum schweifen ließ, schlenderte Jo scheinbar ziellos zwischen
den Schreibtischen hin und her. Wenig später betrat Tamaras Bruder den Raum.
»Gut, dass wir Sie endlich antreffen«, empfing ihn Jo.
»Sind Sie weitergekommen?«, fragte Philip ohne
Umschweife.
Wolf wiegte den Kopf hin und her. »Nicht wirklich. Wir
wissen immer noch zu wenig. Deshalb müssen wir noch einmal mit Ihnen sprechen.«
»Was wollen Sie wissen?« Philip warf misstrauische
Seitenblicke auf Jo, die inzwischen seinen Arbeitstisch geortet und einige
Gegenstände, die obenauf lagen, wie zufällig in die Hand genommen hatte.
»In den Sachen Ihrer Schwester fanden sich keinerlei
persönliche Aufzeichnungen. Sie wissen schon, Namen, Telefonnummern, Termine
und so weiter. Das wundert uns. Haben Sie dafür eine Erklärung?«
Ein hünenhafter junger Mann mit markanter
Hahnenkammfrisur hatte bei den letzten Worten den Raum betreten. Fragend
wanderte sein Blick von den zwei Besuchern zu Philip.
»Einer meiner beiden Zimmergenossen, Hans-Peter
Teltschig«, erläuterte Philip. Dann stellte er diesem die beiden Polizisten
vor.
»Sie können Hape zu mir sagen«, forderte sie der Hüne
freundlich auf.
»Der Kommissar wundert sich gerade«, erläuterte ihm
Philip, »dass bei Tammy keine persönlichen Aufzeichnungen gefunden wurden. Nun,
ich fürchte, da kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen, Herr Kommissar. Tammy
hat in letzter Zeit ihr eigenes Leben geführt, unser Verhältnis war nicht so
eng, wie Sie vielleicht meinen.«
»Und was ist das hier?« Mit diesen Worten hielt Jo ein
kleines buntes Büchlein hoch, das auf dem Umschlag in kunstvoll verschlungener
Kalligraphie die Initialen » TR« trug.
»Das gehört mir«, antwortete Philip und versuchte,
nach dem Büchlein zu greifen.
Wolf konnte ihn gerade noch zurückhalten. »Augenblick
mal, junger Freund. Ist das nicht vielmehr der Kalender Ihrer Schwester?«,
fragte er.
»Sie haben kein Recht, mir das wegzunehmen!«, fauchte
Philip. »Brauchen Sie dafür nicht einen Durchsuchungsbeschluss?«
»Brauchen wir nicht«, beschied ihn Wolf. Während er
ihn freigab, wies er auf das Corpus Delicti. »Warum haben Sie das an sich
genommen? Haben Sie auch nur eine Sekunde lang daran gedacht, dass Sie mit
diesem Ding ein Beweisstück unterschlagen, das möglicherweise der Aufklärung
eines Kapitalverbrechens dient? Wenn Sie wirklich wollen, dass der Mörder Ihrer
Schwester gefasst wird, dann sollten Sie besser mit uns kooperieren! Oder haben
Sie kein Vertrauen in die Arbeit der Polizei?«
»Hat der adlige Dreckskerl also doch gepetzt«, knurrte
Hape kaum hörbar. »Das wird er büßen!«
In diesem Augenblick meldete sich Jo: »Na, das ist ja
interessant – schauen Sie mal hier, Chef.« Sie hielt Wolf den aufgeschlagenen
Taschenkalender unter die Nase. »Sehen Sie, diese Mobilfunknummer – kommt Ihnen
die nicht auch bekannt vor?«
»Warte mal … ist das nicht die Nummer von Weselowskis
verschollenem Handy?« Mit gerunzelter Stirn griff Wolf nach dem Kalender und
wandte sich an Philip. »Tut mir leid, aber wir müssen das Büchlein
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