Seefeuer
trauten ihren Augen nicht. Vor dem
lodernden Morgenhimmel tanzte eine flammenumzüngelte Gestalt. Brüllend rannte
sie auf dem Deck hin und her, mit beiden Armen wild um sich schlagend,
kletterte schließlich in panischer Angst über die Reling und sprang mit einem
letzten Aufschrei ins hoch aufspritzende Wasser – eine ganz und gar surreale
Szene. Waren sie etwa einer Halluzination aufgesessen?
Wo hatte der Mensch die ganze Zeit über gesteckt, und
weshalb kam er erst jetzt an Deck? Hatte er geschlafen und den Brand zu spät
bemerkt? Möglich wär’s. Wolf hätte gar zu gerne gewusst, um wen es sich
handelte. Er – oder war es eine Sie? – würde vermutlich einen guten Zeugen
abgeben.
Grupp, der ganz in ihrer Nähe stand, reagierte als
Erster. »Sofort ein Zodiac raus. Und die Notärzte sollen sich bereithalten!«,
bellte er in sein Funkgerät.
Das Zodiac, ein besonders robustes Schlauchboot, war
bereits unterwegs. Am Bug stand Manfred Schönwald und dirigierte den Mann an
der Pinne. Doch das Boot der Wasserschutzpolizei war vor ihnen zur Stelle. Mit
vereinten Kräften zogen die Männer eine leblose Gestalt aus dem Wasser und
hievten sie auf das Zodiac, das sofort zum Ufer zurückkehrte.
Wolf war mit Karin und Jo hinter Grupp und den beiden
Notärzten her zum Anlegesteg geeilt. Kaum hatte das Boot festgemacht, packten
die Ärzte den Geretteten und zogen ihn vorsichtig auf den Steg, wo sie ihn
zunächst in eine stabile Seitenlage brachten. Es handelte sich um einen knapp
sechzigjährigen Mann mittlerer Statur. Seinen Kopf hatten kurze, dunkle Locken
geziert, die zum großen Teil von den Flammen versengt worden waren. Bekleidet
war er mit einer dunkelgrauen Hose und einem ehemals weißen Hemd, das jetzt
durch die Einwirkung der Hitze in Fetzen an seinem Körper klebte.
Einer der Ärzte überprüfte seine Herzfunktion.
»Kammerflimmern. Defi, schnell!« Der zweite Arzt reichte ihm den Defibrillator.
Zwei-, dreimal bäumte sich die Brust des Mannes unter den kontrollierten
Stromstößen auf.
»Ist wieder da«, atmete der erste Arzt schließlich
auf.
Inzwischen waren auch die Kollegen von der Wapo auf
dem Steg eingetroffen. Wolf setzte sie kurz ins Bild.
Mit aller Vorsicht legten die Ärzte den Wiederbelebten
auf eine inzwischen herbeigeschaffte Trage, sich dabei nach Kräften bemühend,
jeden Kontakt mit seinem am stärksten in Mitleidenschaft gezogenen Rücken zu
vermeiden. Sodann verabreichten sie dem wimmernden Mann eine schmerzstillende
Spritze. Schließlich gaben sie ein Zeichen, ihn zu einem der Rettungswagen zu
transportieren.
»Moment noch«, fuhr Wolf dazwischen und zog sich die
vorgeschriebenen Latexhandschuhe über, um mit geübten Griffen die Hose des
Mannes zu durchsuchen. Aus der Gesäßtasche förderte er ein kleines Mäppchen
zutage. Er sah hinein. »Da haben wir’s ja: eine Schweizer Kennkarte. Beat
Züngli heißt der Mann, kommt aus St. Gallen«, wandte er sich an die Kollegen
von der Wapo. Er durchsuchte auch den Rest der Papiere. Schließlich pfiff er
leise durch die Zähne. »Wer sagt’s denn! Züngli ist der Besitzer dieses Kahns,
Heimathafen Romanshorn.«
»Das hätte ich Ihnen auch sagen können«, drängte sich
da Karin Winter nach vorne. Aller Augen richteten sich auf sie.
»Sie kennen wohl jeden, was?«, fragte Wolf spöttisch.
»Kennen ist zu viel gesagt. Wir haben mal einen kurzen
Bericht über seine Kreuzfahrtpläne gebracht. Würde mich interessieren, warum er
mit seinem Schiff die Nacht über hier lag. Normalerweise liegt er vor
Romanshorn.«
Wolf war immer noch misstrauisch. Warum rückte sie
erst jetzt mit dieser Information heraus?
Als hätte sie seine Gedanken erraten, fügte die
Journalistin hinzu: »Sie müssen sich noch etwas gedulden, Herr Hauptkommissar.
Das Wenige, was ich über den Mann und sein Schiff weiß, ist Teil der Theorie,
von der ich sprach. Spätestens morgen früh reden wir darüber. Tschau!« Nach
wenigen Schritten kehrte sie noch einmal um: »Ach ja, fast hätt ich’s
vergessen: Sie haben doch sicher den Taucher da draußen bemerkt?«
»Hab ich«, knurrte er.
Während Karin Winter nun endgültig davonstolzierte,
sah Wolf zu dem Schiff hinüber. Die Flammen waren mittlerweile in sich
zusammengefallen. Zwei Zodiacs hatten an dem Schiffskörper festgemacht, und
eine Handvoll Feuerwehrleute, darunter Manfred Schönwald, kletterte hinauf, um
die Räume der tiefer gelegenen Decks zu inspizieren und eventuelle Schwelbrände
zu löschen.
»Was
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