Seegrund
auch gar keines war. Am Anfang ermittelte ich also in einem Fall, der eigentlich gar keiner war. Und vielleicht wäre es dabei geblieben: ein ominöser Tauchunfall im Schnee. Aber da war dieses Zeichen. Als Sie nach der Wende zum ersten Mal hierher gekommen sind, Herr Ackermann, müssen Ihnen ja die Augen übergegangen sein. Überall stößt man hier darauf!«
Kluftinger ging auf den Opel von Ackermann zu und malte das Zeichen auf die verdreckte Heckscheibe.
»Letztendlich war es die maßlose Arroganz Ihrer Kameraden, die mir die Augen geöffnet hat. Kein Wunder: Ein Geheimnis, das über sechzig Jahre nicht gelüftet wurde, das scheint gegen alle Eventualitäten gefeit. Und dann wird man überheblich. Und von der Überheblichkeit ist es nur ein kleiner Schritt zum Leichtsinn.«
Kluftinger grinste versonnen und fuhr fort: »Aber der Reihe nach: Der Beginn dieses Falles führt uns zurück, weit zurück in die vielleicht dunkelsten Monate, die unser Land jemals erlebt hat. Es sind die letzten Wochen oder Monate des Krieges.
Alle, die nicht blind sind, sehen, dass es kein gutes Ende nehmen wird. Und man beruft alles ein, was zwei Beine hat, um zu gehen.
Aber Sie haben Glück, Sie werden nicht an die Front geschickt, um Ihren Kopf ins Feuer zu halten wie die anderen in Ihrem Alter. Nein, mit Ihnen allen hat man anderes vor. Sie steckt man in eine Sondereinheit. Es ist nur ein Befehl, der Sie alle zusammenführt, Ihrer aller Leben für immer verändert. Wie viele Kisten waren es denn, Herr Ackermann, die Sie damals, in einer dunkeln Nacht, im Alatsee versenkt haben?«
Kluftinger sah den alten Mann an, der aber wich seinem Blick aus und drehte den Kopf weg.
»Egal, wir werden es ja ohnehin bald erfahren. Sie und Ihre Kameraden wissen also selbst nicht genau, was in den Kisten ist, die Sie da transportieren. Aber in Ihnen reift eine Ahnung. Sie versenken die Kisten und versuchen, sich die Stelle zu merken. Doch das ist schwierig mitten in der Nacht. Ohne Kompass, ohne Navigationsgeräte. Aber davon verstehen Sie eh nichts. Sie sind Jungen, gerade aus der Pubertät heraus. Und so leisten die Kinder, denen man die Kindheit genommen hat, einen Eid. Irgendwann werden Sie zurückkommen. Sie alle zusammen. Und nachsehen, was in den vermaledeiten Kisten ist. Dann wird man gerecht teilen. Aber zu einem richtigen Bund gehört ein Zeichen. So stand es in den Abenteuergeschichten, nicht wahr? Was mir wirklich Respekt einflößt, ist, dass dieser Bund von Jungen, dass dieses Versprechen so lang gehalten hat. Vielleicht war es Ihr Stolz, ein so großes Geheimnis zu bewahren. Doch es gab etwas, das Sie nicht wussten.«
Kluftinger machte eine Pause und wartete, bis Ackermann ihn stirnrunzelnd ansah.
»Sie wussten nicht, dass der See noch zwei andere Geheimnisse barg. Geheimnisse, die aus dem See so etwas wie einen unbezwingbaren Tresor gemacht haben.
Erstens: Der Seegrund war aus damaliger Sicht nach menschlichem Ermessen und mit der damaligen Technik unerreichbar. Die Schwefelbakterien waren sozusagen das Siegel der Verschwiegenheit, das niemand durchbrechen konnte.
Zweitens: Die Nazis hatten Waffenversuche dort oben gemacht, hatten den See zum Sperrgebiet erklärt und möglicherweise ihre Superwaffe erprobt. Deshalb haben später auch die Amerikaner einige Jahre den See abgesperrt. Ohne je etwas zu finden. Oder haben sie es nur nicht bekannt gemacht?«
Bei der letzten Frage zuckte Ackermann leicht zusammen.
»Doch Ihr Krieg ist noch nicht zu Ende. Ganz am Schluss kommen Sie doch noch an die Front. Russische Gefangenschaft?«
Ackermann nickte zögerlich.
»Dann Ostdeutschland. Sie werden Geologe. Ich weiß nicht, wie es Ihnen ergangen ist. Aber es hat Sie nicht losgelassen, was? Die Kisten. Die Kameraden. Die sich ohne Sie weiterhin trafen. Wurde damals Ihr Hass gesät? Und der Zweifel? Wussten die anderen, was mit Ihnen passiert war? Und nach der Wende haben die anderen Sie einfach abblitzen lassen? Haben die Sie nicht mehr auf der Rechnung gehabt?
Jetzt wollten Sie bestimmt auch nicht mehr mit denen teilen. Aber die anderen haben Ihnen gedroht, stimmt’s? Ich habe einen entsprechenden Brief gelesen. Und dann wittern Sie endlich Ihre Chance. Bringen auf einem Kongress Professor Guthknecht auf die Fährte des Sees. Sie wissen, dass man für Ihr Unterfangen einen Roboter, gutes Equipment und nicht zuletzt die nötigen Genehmigungen braucht. Sie wissen also, dass der einzige Weg zum Seegrund über ein offizielles
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