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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margo Lanagan
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erzählt hatte, als Mum mich zur Tür hinausscheuchte. Eine Hexe war sie also immerhin, aber nicht die legendäre; sie war eins von den wilden Callisher-Mädchen, kam ursprünglich aus Knocknee, das ganz bei uns in der Nähe lag. Doch die Kunst, andere Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen, hatte sie bereits von Misskaella gelernt; meine Kindheitsängste tobten in mir, als sie so energisch und böse auf das Boot zustampfte.
    Mittlerweile hatten die Männer den Bootsjungen begrüßt, ihm beim Aufsetzen der Laufplanke geholfen und die Kartoffelsäcke ausgeladen. Die Kartoffeln waren wohl für Fishers Laden bestimmt, der genau so aussah, wie Großmutter ihn mir beschrieben hatte – neben der Kirche war es das solideste Gebäude im Dorf. Es war merkwürdig, den Laden zu sehen und zu wissen, wie drinnen alles angeordnet war, ohne ihn jemals selbst betreten zu haben.
    Jetzt war es also so weit – mir blieb nur noch, von Bord zu gehen. Ich lief an den neugierigen Passagieren vorbei, die zu den abgelegeneren Inseln weiterfahren wollten, trat aus der Kajüte und setzte den Fuß oben auf die Laufplanke. Die Rollrock-Männer verstummten, reckten mir die Gesichter entgegen. Es gab zwei grundsätzlich verschiedene Arten: rund oder länglich, blass oder etwas dunkelhäutiger, von roten Locken umrahmt oder von seidigem schwarzem Haar; dazu gab es ältere Vertreter dieser beiden Typen mit wettergegerbten Gesichtern, deren Haar nur noch von roten oder schwarzen Strähnen durchzogen wurde oder bereits vollständig weiß war. Kleine helle oder große dunkle Augen musterten mich, einige unerschrocken, andere schüchtern – manche wichen meinem Blick ganz aus.
    Die Hexe drängelte sich durch die Männermenge, baute sich ganz vorn am Ende der Laufplanke auf und stemmte die freie Hand in die Hüfte; die Mädchen hasteten hinter ihr her, wirbelten erst um sie herum und scharten sich dann direkt um sie.
    «Was gibt das denn», rief sie, und es klang, als würde sie mit Steinen gurgeln, «wozu der Koffer? Was hamse hier zu suchen?»
    Ich führte mir meine Großmutter vor Augen, wenn sie zu kämpferischer Form auflief und
es ihr jetzt aber reichte
. Ich war schließlich nicht hergekommen, um mich darum zu kümmern, was Fremde von mir dachten, rief ich mir ins Gedächtnis. Ich schritt die Laufplanke hinunter, als hätte ich jeden Tag mit zornigen Hexen zu tun. «Und wer sind Sie?», fragte ich den kleinen Zankteufel, während ich mich noch ein ganzes Stück über ihr befand. Ich sprach geradeheraus, ohne hämisch oder ängstlich zu klingen. All die Toten in mir – Grandma, Mum, Dad und Donald –, die vier Menschen, die ich nun stellvertretend verkörperte, verliehen meiner Stimme die nötige Gewichtigkeit. «Wer sind Sie, dass ich mich vor Ihnen rechtfertigen müsste? Sind Sie die Bürgermeisterin? Sind Sie von der Polizei oder einer anderen offiziellen Stelle?»
    «Was für ’n Geschäft hamse hier auf Rollrock zu erledigen?»
    «Geschäft? Ich wohne hier. Ich besitze hier Eigentum.» Ich trat seitlich von der Planke auf den Kai hinunter und ging an der Hexe und ihren Töchtern vorbei.
    «Eigentum? Was für ’n Eigentum?», fragte sie und lief mir hinterher.
    Meine Güte, wie groß einige dieser Jungen waren. «Ist das etwa die Art, mit der man hier eine Frau zu Hause willkommen heißt?», fragte ich, weder laut noch wütend, sondern sehr deutlich, Silbe für Silbe. «Lässt man einfach zu, dass sie belästigt und angekeift wird, bevor sie überhaupt einen Fuß an Land gesetzt hat?»
    «Zu Hause? Welches Zuhause?» Die Hexe schob sich vor mich.
    «Beruhig dich, Trudle», sagte einer der älteren, stämmigeren Männer.
    Trudle Callisher reckte ihm das Kinn entgegen und sich selbst, so hoch sie konnte. Ihre vier Töchter ahmten es ihr nach und funkelten den Mann an. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ich über diesen Anblick gelacht.
    «Wie heißt denn Ihre Familie, junge Frau?», fragte mich der Mann.
    «Winch», sagte ich. «Ich bin Lory Severner, die Tochter von Bet Winch, der Tochter von Nance Winch.»
    «Ah!» Nicken, Blicke und Gemurmel liefen durch die Reihen.
    «Dann war Odger Winch also Ihr Großvater, Gott hab ihn selig.»
    «Und Naseby Winch mein Onkel, Gott hab ihn ebenfalls selig. Sie haben beide christlich bestatten lassen, habe ich gehört?»
    Die jüngeren Männer blickten fragend zu den älteren hinüber, sahen sie nicken und beobachteten uns wieder gebannt.
    «Das haben wir. Dann waren Sie und die anderen

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