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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margo Lanagan
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durchaus bewusst, dass noch weitere Gräber auf mich warteten. Bei der nächsten Gelegenheit würde ich sie besuchen: Die Gräber von Großvater Odger Winch und Onkel Naseby, den beiden Halunken, für die Mum nichts als Abscheu und Grandma nur eisiges Schweigen übriggehabt hatte.
    Wir fuhren zwischen den Heads hindurch; wie ungerade Torpfosten türmten sich die Felsen zu beiden Seiten auf, während das Schiff im Seegang schwankte. Als wollte sie uns zujubeln, kam die Sonne heraus, das Wasser leuchtete in einem wunderschönen Blaugrün, und auf einigen Wellen kringelte sich der Schaum wie Sahne. Wir ließen die Heads hinter uns, und dann lagen vor uns nur noch der Himmel und das weite Meer mit ihrem jeweiligen Wetter. Ich schüttelte die Städte und Bauernhöfe mit ihrer ganzen Geschäftigkeit und dem Wirrwarr aus Erinnerungen ab wie einen schweren Mantel und segelte mich frei.
    Der Bootsjunge machte die Runde und sammelte das Geld für die Überfahrt ein. «Sagst du mir Bescheid, sobald Rollrock in Sicht kommt?», bat ich ihn.
    Ich saß dort im Dröhnen des Motors, trieb meinem Abenteuer entgegen und betrachtete alles zu aufmerksam, um noch nachzudenken, bis er mir Bescheid gab. Dann stand ich auf und stellte mich an den Bug.
    Die Insel ragte am Horizont auf. Sie sah selbst aus wie eine bucklige Riesenrobbe, die den Kopf in unsere Richtung drehte, während sich ihr klumpiger Körper dahinter wölbte und im Nordosten in der Schwanzflosse mündete. Die Hänge waren von Grün überzogen, die vordere Flanke voller Felsen und Klippen, an denen das Meer genagt, sie aber nicht vollständig verschlungen hatte. Die Buchten und Höhlen erschienen mir allesamt unzugänglich, tückisch und abweisend.
    Doch als wir näher kamen, steuerten wir nicht auf den rauen Küstenteil zu, sondern schlugen Kurs Richtung Westen ein und fuhren um den Kopf herum, und direkt dahinter fiel das Gelände weniger steil ab und machte Platz für ein Dorf an den Hängen oberhalb der beiden langgezogenen Molen, die vom Ufer ins Meer ragten. Über den Häusern zogen sich kreuz und quer Feldmauern entlang, die aussahen, als könnten sie jederzeit den Hügel herunterpurzeln. Die Felder, die sie begrenzten, waren kleiner und steiniger als die, die ich aus der Gegend um Knocknee kannte.
    Ziemlich unvermittelt schob sich die Landzunge zwischen uns und den Seegang, und der Motor musste nicht länger über die Wellen klettern. Wir glitten das letzte Stück dahin, der Horizont hörte auf zu schwanken, und die Insel machte nicht mehr den Eindruck, als könnte sie jeden Moment im Schlaf vornüberkippen und uns unter sich begraben. Welches Haus wohl meins war? Ich versuchte, mit den Augen dem Pfad zu folgen, von dem Grandma mir in ihren Gutenachtgeschichten erzählt hatte, als ich noch ganz klein war.
Ein kleines schwarzes Haus
, hatte sie gesagt; ob es
das
kleine schwarze Haus dort an der Böschung war, direkt hinter dem Kirchturm?
    Die Fähre wurde langsamer, das Wasser peitschte ans Heck. Wir prallten gegen den Landungssteg. Es schien, als hätte sich das ganze Dorf versammelt, um uns zu begrüßen, und das ganze Dorf bestand aus Männern, genau wie unser Besucher Tom Grease es Mum und Grandma erzählt hatte – Männer, die einfach nur herumlungerten oder am Ufer Netze flickten, in Grüppchen vor dem Laden standen, die Häuserreihe am Hafen entlangspazierten oder aus dem Dorf herunterkamen.
    Ich nahm meinen Koffer, stellte ihn auf dem Sitz ab und blieb daneben stehen, sah zu, wie der Bootsjunge die Leinen vertäute. Hinter ihm tauchte an der Uferzeile eine kleine, krummbeinige, stämmige Frau auf und eilte auf uns zu. Sie hielt ein Baby im Arm und hatte vier Töchter mit flammend roten Haaren im Schlepptau, die unterschiedlich groß waren, aber alle geblümte Kleider trugen.
    Das konnte doch nicht Misskaella sein? Grandma hatte uns jede Menge Geschichten über diese Frau erzählt – hatte uns sogar mit ihr gedroht, wenn wir uns als Kinder schlecht benommen hatten.
Die Hexe kommt übers Meer gelaufen
, hatte sie uns erzählt,
und wird euch schrecklich bestrafen
. Ich spürte einen kleinen Stich und war ein wenig wütend auf Donald, weil er tot war und nicht mehr vor Schreck erzittern konnte, wenn ich ihm erzählte, dass ich der echten Misskaella von Angesicht zu Angesicht begegnet war.
    Aber nein, das konnte nicht sein – eine so junge und quietschlebendige Frau mit dieser Kinderschar. Ah, das musste ihre
Schülerin
sein, von der Mr. Grease Grandma

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