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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
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wirklich erstaunt zu hören, dass du ausgewandert bist - und dass du drei australische Kinder hast.
    Wenn du Zeit hast, würde ich gern hören, was du so machst, und vor allem ein paar Fotos sehen. Ich konnte nur ein einigermaßen anständiges Bild von mir finden, und es ist auch nicht ganz so neu. Es ist eine Publicity-Aufnahme für ein Konzert, das ich vor ein paar Jahren in der Wigmore Hall gegeben habe, deshalb sieht es natürlich gar nicht so aus wie ich. Das war der Höhepunkt meiner Karriere, aber ich habe den Durchbruch als Solistin nicht geschafft, und jetzt bin ich nur noch fürs Orchester brauchbar.
    Ich gebe auch Cellostunden, was unglaublich deprimierend ist, weil die Kinder meist völlig unmotiviert sind; die, die es ganz gut können, sind auch in allem anderen gut, und hören unweigerlich auf, um sich auf ihre Abschlussprüfungen zu konzentrieren. Ich wohne im Moment in einer Wohnung in Vauxhall - ich weiß nicht, wieso ich »im Moment« schreibe, denn es ist unwahrscheinlich, dass sich das ändert.
    Meine Eltern wohnen noch in unserem alten Haus in der Sackgasse - sie sind ungefähr zur Zeit von Birdies Tod wieder zusammengekommen. Meine Granny ist vor etwa fünf Jahren gestorben, deshalb haben sie das Haus wieder für sich allein, und sie scheinen jetzt glücklicher zu sein als je zuvor. Sie machen Wochenendausflüge und besuchen Kunstgalerien und Kirchen. Obwohl diese Ausflüge in der letzten Zeit immer kürzer geworden sind, weil mein Vater nicht weit laufen kann, ohne außer Puste zu geraten. Er hat jedoch aufgehört, seine eklige alte Pfeife zu rauchen, was gut ist, wenn natürlich auch zu spät. Sie haben alle Hoffnung auf Enkel aufgegeben, da ich keine Anstalten mache, mich niederzulassen. Vielleicht ende ich so wie Clarissa - du weißt schon, nachmittags mit Männern Golf spielen obwohl ich es realistisch sehe, dass die Chancen darauf gering sind. Es ist wahrscheinlicher, dass ich mich in Auntie Mim verwandele. Ich habe oft an dich gedacht und mich gefragt, wie es dir geht - ich habe fast damit gerechnet› dich irgendwann im Fernsehen zu sehen. Ich habe mir immer vorgestellt, dass du Schauspielerin wirst. Ich gehe nicht davon aus, dass du es mit drei kleinen Kindern je schaffen wirst, nach England zu kommen, aber falls doch, würde ich dich sehr gerne sehen.
    Alles Liebe Abigail
    Das warf ich, wieder mal, in eine unergründliche Tiefe, ohne zu wissen, ob es je gelesen würde.

45
    Am Muttertag fuhr ich zu meinen Eltern, um ein Mittagessen für sie zu kochen. Ich hatte das zum ersten Mal vor ein paar Jahren getan, seitdem hatte diese Geste den Status einer Tradition angenommen, die ihnen lieb und teuer war. Der Versuch, dieses Ritual zu umgehen und einfach zu Osterglocken zurückzukehren, käme einem Affront gleich. Mir gefällt es - ich genieße die Herausforderung, in Mutters Küche ein Menü mit drei Gängen zuzubereiten, ohne sie anzufahren, weil sie die Sachen wegräumt, die ich noch brauche, und ich benutze gern alte Geräte und Töpfe, die mich an meine Kindheit erinnern. Es kann nicht viele Menschen geben, die über Küchenutensilien nostalgisch werden, aber ich bin einer davon.
    Auf dem Rasen vor dem Haus wuchsen Krokusse. Der Magnolienbaum nebenan blühte bereits; auf jedem Zweig saßen wächserne Glühbirnen. Der Frühling war früh gekommen. Mutter lockerte gerade den Rasen mit einem Laubrechen auf, als ich ankam, riss große Moosstücke heraus und kratzte sie zu einem Haufen zusammen.
    »Das solltest du nicht machen«, sagte ich und berührte ihre Wange leicht mit meinen Lippen. »Es ist doch dein Tag.« Sie trägt heutzutage so viel Puder auf, dass es ein wenig so ist, wie ein weiches Brötchen zu küssen.
    »Jemand muss es ja machen«, sagte sie leicht ärgerlich.
    Drinnen saß Vater in seinem Sessel, auf dessen Armlehne er ein Schachset im Taschenformat balancierte. Er spielte gegen sich selbst. Diese Partien konnten sich tagelang hinziehen und kamen nur zu einem Ende, wenn jemand aus Versehen das Brett umkippte.
    Er stand mühsam auf, als ich hereinkam, wobei die Schachfiguren in ihren Löchern klapperten.
    »Ich weiß nicht, wieso sie sich die Mühe macht«, sagte er. »Moos ist grün und man muss es nicht so oft schneiden wie Gras. Wir bräuchten mehr Moos, nicht weniger.«
    »Wisst ihr, wen ich vor ein paar Wochen bei einem Konzert getroffen habe?«, fragte ich, als wir aßen.
    »Simon Rattle?«, riet Mutter hoffnungsvoll.
    »Nein, nein. Ich meine keine Berühmtheit. Ich

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