Seejungfrauen kuesst man nicht
schreibt gute Briefe. Ich denke, ihn vermisse ich mehr als alle anderen. Wenn du dich je danach sehnst, einem englischen Winter zu entkommen - oder auch einem englischen Sommer - würden wir uns freuen, wenn du uns besuchst. Ich wünschte, ich könnte versprechen, in Kontakt zu bleiben, aber ich bin heutzutage die nachlässigste Korrespondentin der Welt. Nev verschickt an Weihnachten immer per E-Mail ein Rundschreiben an seine Freunde, aber ehrlich gesagt ist es völlig unlesbar, deshalb erspare ich es dir. Trotzdem schreib bitte wieder, wenn du Zeit hast.
Alles Liebe Frances
PS: Besuch doch mal Rad, wenn du kannst, denn er ist gelangweilt und einsam.
Es lagen vier Bilder bei - eine Studioaufnahme von den Kindern, jeweils eines von Frances und Nev, der ganzen Familie und der Fassade des Hauses, ein riesiges, weißes, einstöckiges Gebäude mit grünem Ziegeldach und einem Zitronenbaum auf dem Rasen vor dem Haus. Ich schenkte ihnen nicht die Beachtung, die ich ihnen sonst hätte zuteil werden lassen, weil meine Gedanken nur noch um Frances‘ Neuigkeiten über Rad kreisten. Ich las den entscheidenden Absatz noch einmal. Er ist im Schnee mit seinem Motorrad gestürzt. Das musste in den drei oder vier Tagen nach unserem Treffen gewesen sein, da der Schnee nicht lange liegen geblieben war und wir seitdem keinen mehr gehabt hatten. Vielleicht hatte er meine Karte nie bekommen - war ins Krankenhaus eingeliefert worden, noch bevor ich sie aufgegeben hatte.
Ich las weiter: Anscheinend ist er jetzt draußen. Der Brief trug das Datum von vor zwei Wochen. Die Hoffnung, die einen Augenblick in mir aufgekeimt war, erstarb wieder, als mir klar wurde, dass er inzwischen eine Menge Zeit gehabt hätte, auf meine Karte zu antworten, wenn er auch nur im Geringsten interessiert gewesen wäre. Vielleicht hatte er sich den Schreibarm gebrochen?, dachte ich und versuchte ihn mir von der Schulter bis zu den Fingerspitzen eingegipst vorzustellen, wie er irgendwo im Bett lag, hilflos mit diesem fünf Zentimeter langen Stück Wachsmalstift herumfummelte, umgeben von einem Dutzend zusammengeknüllter unleserlicher Nachrichten an mich. Das erschien mir irgendwie nicht sehr wahrscheinlich: Es würde mehr brauchen als ein paar gebrochene Knochen, um jemanden abzuhalten, der wirklich interessiert und einfallsreich war. Besuch doch mal Rad, wenn du kannst, denn er ist gelangweilt und einsam. Tja, dann sind wir schon zwei, dachte ich und griff nach meiner Straßenkarte.
Selbst meine riesige A-Z-Straßenkarte konnte mir mit den spärlichen Informationen, die Rad als Adresse angegeben hatte, nicht weiterhelfen. Es gab Straßen namens Riverside in Twickenham, Richmond und Woolwich, aber nicht in Laisham. Ich fragte mich schon, ob meine Karte überhaupt angekommen sein konnte. Ich spielte mit dem Gedanken, hinüber in die Sackgasse zu fahren und mir Dads amtliche topografische Karte der entsprechenden Gegend auszuleihen, beschloss jedoch, dass eine Fahrt in die Stadt, um eine zu kaufen, schneller und weniger frustrierend wäre. Wir würden Stunden brauchen, um das obskure Ablagesystem zu knacken, das seit der Renovierung des Arbeitszimmers angelegt worden war, und dann würde vermutlich die Karte, die ich brauchte, fehlen oder ausgeliehen sein. Das war mir schon zu oft passiert.
Ich verbrachte einige Zeit in Geschäften, um ein passendes Mitbringsel zu finden. War es in Ordnung, einem Mann Blumen mitzubringen? Country Living kam in diesem Fall nicht in Frage. Ein Buch wäre nicht gut. Er konnte es bereits haben oder den Autor hassen. Wenn ich eins nahm, das ich selbst noch nicht gelesen hatte, konnte ich nicht dafür bürgen, dass es gut war, aber ein altes Lieblingsbuch von mir auszuwählen und anzunehmen, dass er es noch nicht gelesen hatte, erschien mir irgendwie arrogant - wie eine Hausaufgabe. Schließlich entschied ich mich für teure Pralinen - ich wollte nicht, dass es aussah, als hätte ich auf dem Weg noch schnell an irgendeiner Tankstelle angehalten und irgendwas gekauft - und für einen Strauß Osterglocken. Mit Osterglocken kann man nichts falsch machen: Man kann sie einfach in einen Bierkrug zwängen und sie sehen nett aus.
Was Riverside betraf, konnte die topografische Karte mir natürlich auch nicht helfen, aber sie lieferte mir doch ein paar Anhaltspunkte. Bei Laisham hatte die Themse einen Mäander abgetrennt, der so tief war, dass er fast einen toten Flussarm gebildet hätte. Bevor das geschehen konnte, war ein Kanal angelegt
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