Seejungfrauen kuesst man nicht
borgen. Und dann hat er festgestellt, dass sein Pass abgelaufen war. Wir versuchen es angeblich morgen noch mal.«
»Oje.«
»Das ist jedes Jahr so. Ich bin schon dran gewöhnt.«
Das war das längste Gespräch, das ich je mit Rad geführt hatte, und ich war dankbar für den Schutz des Telefons und die meilenweite Entfernung zwischen uns, die ihn davon abhielt, meine brennenden Wangen zu sehen. Manchmal errötete ich so heftig, dass ich Nasenbluten davon bekam. Ich war überzeugt, dass an meinem Zustand etwas Krankhaftes war, doch Mutter hatte meine Forderungen, zum Arzt zu gehen, als lächerlich abgetan. Ihrer Ansicht nach wäre es ungesund gewesen, wenn ein zwölfjähriges Mädchen nicht errötete. Es war eines der Dinge, die sie an Frances verdächtig fand, diese Weigerung, sich einschüchtern zu lassen.
»Denk einfach an etwas Kühles, wenn du spürst, dass du rot wirst«, lautete ihr Vorschlag. Deshalb murmelte ich eine Zeit lang immer, wenn Verlegenheit drohte, »gefrorene Erbsen, gefrorene Erbsen« vor mich hin.
Der Parisbrief kam schließlich am Tag vor unserer Abreise nach Skye an. Die Woche zuvor hatte ich damit verbracht, trübsinnig im Haus herumzuschleichen, gelangweilt und unruhig, spät aufzustehen und meine Mutter in den Wahnsinn zu treiben, indem ich mich einschloss und stundenlang fernsah, anstatt den Sonnenschein zu genießen.
»Du kriegst noch Rachitis«, warnte sie mich. Ich machte noch mal einen Fahrradausflug zur Balmoral Road, aber das Haus war verschlossen und dunkel. Ich spähte sogar durch den Briefkasten und rechnete halb damit, Kläffen und das Geräusch von Pfoten auf den Fliesen zu hören, aber da war nichts.
Dann kam er endlich, flatterte in seinem Luftpostumschlag auf die Fußmatte, so leicht wie ein Herbstblatt. Ich zog mich in mein Zimmer ins obere Bett zurück und schloss die Tür, falls der Brief Geheimnisse enthielt, die sonst entfliehen würden. Er war vor zwei Wochen aufgegeben worden: Für Frances waren die Ereignisse, die sie beschrieben hatte, längst Vergangenheit.
Liebe Blush,
ich schreibe dies im Hotelzimmer Es ist bullig heiß draußen und Mum liegt ohne was auf dem Bett. Wir amüsieren uns prächtig - wir waren beim Eiffelturm und im Louvre und in Notre-Dame, wo ich eine Kerze für dich und eine für Growth angezündet habe. Es hat zwei Francs gekostet. Man muss das Geld in diese Blechdose tun, aber das kontrolliert niemand. Mum will ständig, dass ich Französisch spreche. Ich habe versucht, ihr zu sagen, dass wir nur so was können wie »II fait beau aujourd ‚hui« und »Le chien est sous la table«, was in Geschäften oder sonst wo nichts taugt. Im Untergrund sind viele Bettler mit kleinen Pappstücken, auf denen steht »J‘ai faim« - das habe sogar ich verstanden! Ich habe einem einen Franc gegeben und er hat »Merci« gesagt, und ich habe Panik gekriegt und ebenfalls »Merci« gesagt. Ich werde mich nie an dieses Essen gewöhnen - gestern Abend habe ich Fisch bestellt und das war alles, was ich bekommen habe - nur einen ganzen Fisch auf einem Teller in ein bisschen Sauce, der mich angestarrt hat. Keine Pommes oder so. Ich glaube, ich bleibe ab jetzt beim Steak. Weißt du was? Heute Morgen saßen wir in diesem Café und rate, wer reinkam?
Lawrence. Er ist ein paar Tage in Paris auf irgendeiner Architektenkonferenz, deshalb lädt er uns zum Abendessen ein.
1 Uhr nachts. Wir sind gerade vom Abendessen mit Lawrence zurückgekommen. Meine Füße tun mir höllisch weh. Wir sind in einem wirklich protzigen Restaurant gewesen - Mum hat mich gezwungen, ein Kleid anzuziehen, und hat mir ein Paar hochhackige Schuhe geliehen. Sie war natürlich total aufgedonnert. Lawrence spricht wirklich gut Französisch - er hat uns nicht gefragt, was wir wollten oder so, er hat einfach eine ganze Menge Zeug bestellt - ungefähr sechs Gänge. Und er hat Mum und mir je eine rote Rose gekauft von dem Typen, der mit einem Eimer um die Tische herumwanderte. Ich habe gerade versucht, meine zwischen den Seiten meines Tagebuchs zu pressen, aber jetzt ist sie ein bisschen zerquetscht. Noch dem Dinner hat er uns mit in einen Klub genommen, wo wir noch mehr getrunken haben - ich hatte schon ungefähr einen Liter Cola! und du wirst es nicht glauben, aber da waren Frauen auf der Bühne, die haben eine Art Formationstanz gemacht und eine Menge Federn und Pailletten und so was getragen, aber nichts über ihren Titten oder Hintern! Ehrlich! Und außer mir schien das niemandem auch nur
Weitere Kostenlose Bücher