Seejungfrauen kuesst man nicht
ungefähr zu der Zeit, als ich Saint Bede‘s verlassen hatte, war Vaters Gymnasium zu einer Gesamtschule geworden. Natürlich verstand ich die Details nicht, aber die Niedergeschlagenheit und das finstere Gemurmel meiner Eltern ließen keinen Zweifel daran, dass das etwas Schlechtes war.
»Verstehst du, im Moment«, erklärte Vater eines Morgens, während er den Frühstücksspeck unter den Grill legte, »nimmt das Gymnasium nur kluge Kinder wie dich, und der Himmel weiß, dass ein paar davon dumm genug sind.« Er schaltete das Gas ein, das sich fächerartig über den Speck ausbreitete, während er nach den Streichhölzern suchte. »Aber wenn es zu einer Gesamtschule wird«, er zündete ein Streichholz an, »müssen wir Kinder nehmen, die wirklich sehr beschränkt sind«, das Gas entzündete sich dröhnend, »und den sehr Beschränkten Latein beizubringen ist viel weniger angenehm, als es den Klugen beizubringen.«
Das war natürlich nicht alles. Als der Geist der Modernisierung erst einmal auf dem Vormarsch war, folgten andere Veränderungen. Latein und Griechisch, befand man, waren nicht mehr so relevant wie zum Beispiel vor fünf Jahren. Vater und der Griechischlehrer würden die Oberstufe weiter unterrichten, aber die Neuzugänge würden stattdessen bei einem Geschichtslehrer ein Fach namens »Gemeinschaftskunde« haben, Vater war glücklich, von seinen Pflichten gegenüber den sehr Beschränkten entbunden zu sein, aber trotzdem deprimiert, und das Abendbrot, früher eine Gelegenheit, sich die wichtigen Ereignisse des Tages zu erzählen, wurde zu einer düsteren Angelegenheit unter Vorsitz des Geistes der Zivilisation, deren Hinscheiden Vater allabendlich beklagte.
»Es scheint, dass Shakespeare als Nächstes gehen muss, der arme Kerl«, sagte er einmal, als spräche er von einem Kollegen. »Heute Mittag gab es eine ziemlich lange Konferenz zu dem Thema - ich lausche bei so was immer, um die neueste Dummheit aufzuschnappen und das Ergebnis war, dass die Englischlehrer Wege finden müssen, Shakespeare relevant zu machen.« Er seufzte.
»Was passiert eigentlich«, sagte Mutter, »wenn die Gymnasiasten nach und nach abgehen? Ich meine, es wird eine Zeit kommen, wo niemand mehr da ist, der Latein lernt. Was passiert dann mit dir?«
»Ah«, sagte Vater. »Mit jedem Jahr, das vergeht, werde ich langsam getilgt. Und dann? Gute Frage.« Aber er wusste darauf keine Antwort, und die Mahlzeit wurde in unbehaglichem Schweigen fortgesetzt.
»Tony Inchwood hat den Posten des stellvertretenden Schulleiters bekommen«, berichtete Vater ein paar Monate nach diesem Gespräch beim Abendessen. »Seit Jahren der Erste, der bei uns befördert wird.«
»Tony Inchwood? Was war er denn vorher?«, fragte Mutter.
»Fachleiter der Sprachen.«
»Dann wird sein Posten also frei.«
»Nicht lange - die Stellenausschreibung erscheint in der Freitagszeitung.«
»Du könntest dich bewerben, du unterrichtest schließlich eine Sprache.«
»Oh nein, ich nicht«, sagte Vater, schnitt sich ein Stück Weißbrot ab und tunkte es in seine Gulaschsoße. »Hätte nicht die geringste Chance.«
»Wieso denn nicht?«, fragte Mutter entrüstet.
»Zu alt.«
»Du bist nicht alt, du bist erst neunundvierzig.«
»Einundfünfzig.«
»Na ja, was sind schon zwei Jahre?«
»Es klingt schlimmer.«
»Aber du hast noch fast fünfzehn Berufsjahre vor dir. Sie können doch von dir nicht erwarten, dass du die ganze Zeit im selben Job bleibst.«
»Erst vor kurzem hast du dir Sorgen gemacht, dass ich nicht mehr sehr lange im selben Job bleiben würde«, sagte Vater, ließ sein Brot über den Teller gleiten und hinterließ eine saubere Porzellanspur. »Außerdem will ich nicht die Sprachabteilung leiten - den Lehrplan für Deutsch aufstellen, Inventur machen und endlose Sitzungen leiten. All das hat nichts mit Lateinunterricht zu tun.«
»Aber du musst dich darum bewerben«, beharrte meine Mutter. »Du hast sicher eine gute Chance, nach allem, was du schon getan hast. Und es würde ihr Problem lösen, was sie mit dir machen sollen.« Und bevor er sein letztes Stück Brot aufgegessen hatte, hatte sie einen Block Schreibpapier aus dem Sekretär geholt. »Hier.«
»Ich muss es nicht schriftlich machen. Ich werde Roger gegenüber erwähnen, dass ich vage interessiert bin. Nicht, dass ich es wäre«, fügte er hinzu.
»O nein«, sagte meine Mutter energisch. »Wir werden das richtig machen.«
Er bekam den Job natürlich nicht. Nachdem er sich die Mühe
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