Seejungfrauen kuesst man nicht
Korridors versuchten er und Lexi die Klotür weit genug aufzudrücken, damit Rad sich durch den Spalt quetschen konnte. Mr. Radley war vom Sitz gefallen und eingeschlafen oder bewusstlos, eingeklemmt zwischen Sockel und Tür. Nach ein paar Minuten tauchte Rad wieder auf. Halb stützte er seinen Vater, halb zog er ihn. Als sie vorbeikamen, wich ich zurück und entdeckte Frances dicht hinter mir. »Geh wieder ins Bett«, sagte sie kalt. »Sie brauchen dich nicht.« Und mir wurde klar, dass das, was ich an dem Abend miterlebt hatte, kein einmaliger Vorfall war, sondern schon früher passiert war, vielleicht sogar ebenso zum Familienritual gehörte wie der Besuch bei den Schützengräben.
Bei meiner Rückkehr wurde ich von meinen Eltern begeistert empfangen: Meine Abwesenheit war ein willkommener Grund, sich nicht mehr nur um Großmutter kümmern zu müssen. Sie kamen unabhängig voneinander zu mir, um mir zu sagen, wie sehr sie mich vermisst hatten. Ich nehme an, meine Ferien hatten ihnen einen Vorgeschmack darauf gegeben, wie das Leben sein würde, wenn ich in ein paar Jahren von zu Hause wegginge. Ihnen drohten endlose Tage unbelohnter Knechtschaft. Seit ihrer Ankunft hatte Granny sich bemüht, so hilflos und abhängig wie möglich zu werden, damit das Arrangement sich nicht als vorübergehend erweisen sollte.
Am Morgen nach meiner Rückkehr war ich im Wohnzimmer und durchsuchte den Sekretär nach ihrem verlegten Adressbuch. Es enthielt kaum ein halbes Dutzend Namen, die nicht durchgestrichen und mit einem beunruhigenden »T« versehen waren, und sie konnte es sowieso nicht mehr lesen, aber ihre Aufregung darüber, es verlegt zu haben, war so groß, dass das gesamte Haus Zimmer für Zimmer durchsucht wurde, um es zu finden. Ich hatte gerade ein altes Postsparbuch auf meinen Namen ans Tageslicht befördert, auf dem noch zwei Pfund waren, und übte in der Hoffnung, sie eines Tages abzuheben, meine Unterschrift im Alter von sieben Jahren, als ich hörte, wie die Briefkastenklappe klirrend zufiel und ein Päckchen auf die Matte fiel. Das Päckchen war an mich adressiert und enthielt eine neue Taschenbuchausgabe von Goodbye to All That , mit einer Widmung von bewundernswerter Knappheit: Für Abigail von Rad. Ich hatte nicht einmal versucht, Mr. Radleys zerfledderte Ausgabe zu lesen, aber mit dieser fing ich sofort an und hatte nach ein paar Absätzen beschlossen, dass es das beste Buch war, das je geschrieben worden war.
Ich kam nicht dazu, Rad für dieses Geschenk zu danken: Das nächste Mal, als ich zu den Radleys ging, war er nach Durham abgereist. Mr. Radley hatte darauf bestanden, ihn hinzufahren, obwohl Rad versucht hatte, es ihm auszureden, und das Thema wäre fast zum Enterbungsgrund geworden. Insgeheim dachte ich, dass es von Mr. Radleys Seite eher eine Frage von Sturheit als von Vaterstolz war. Als Autodidakt war seine Einstellung zu Universitäten schon immer ambivalent gewesen: Eine Kombination aus Neid und Verachtung. Im Endeffekt war es die Frage, wie viele Bücher mehr Rad im Auto mitnehmen könnte als im Zug, die die Frage zu Gunsten seines Vaters entschied. Später hörte ich, dass Mr. Radley gegen Ende der Fahrt eine ziemlich anmaßende Gleichgültigkeit für die Tankanzeige an den Tag gelegt hatte und dass das Auto kurz vorm Ziel stehen geblieben war. Sie waren gezwungen gewesen, es die letzten zweihundert Meter bis zu Rads Studentenwohnheim zu schieben, eine Demütigung, über die erst gegen Ende des Trimesters Gras wachsen würde.
25
Ein paar Monate nach unserer Rückkehr aus dem Urlaub kam Frances mit der aufregenden Neuigkeit in die Schule, dass Nackte auf einer Sonnenliege mit frischen Feigen von Lazarus Ohene im Nationalen Porträtwettbewerb Dritter in seiner Kategorie geworden war und sich das Vermögen der Radley-Familie auf einen Schlag um fünfhundert Pfund erhöht hatte.
Sofort trugen Bittsteller ihre Wünsche vor. »Wir brauchen einen neuen Staubsauger«, sagte Lexi. »Dieser hier saugt den Schmutz nicht mehr auf, er schiebt ihn nur hin und her. Ach, und mein Mitgliedsbeitrag für den Golfklub ist bald fällig. Vergiss den Staubsauger.«
»Ich brauche eine Lederjacke, wie sie Motorradfahrer tragen«, sagte Frances.
»Du hast doch gar kein Motorrad«, protestierte Mr. Radley. Er wandte sich an seine Frau. »Ich werde meinen Gewinn nicht für etwas Prosaisches wie einen Staubsauger ausgeben, vielen Dank.« Ihm kam ein Gedanke. »Ich benutze ihn ja nicht mal.«
»Als Motiv des Gemäldes
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