Seejungfrauen kuesst man nicht
habe ich ein paar Rechte, finde ich«, sagte Lexi.
»Ich sollte Anspruch auf einen Teil des Geldes haben«, sagte Rad, der übers Wochenende zu Hause war. »Ich bin auf der Suche nach diesen Feigen durch halb London geradelt. Und es besteht nicht mal eine große Ähnlichkeit mit ihnen: Jedes alte Stück Obst hätte es ebenso gut getan.«
Man hatte sich geeinigt, dass Mr. Radley allein zur Preisverleihung gehen würde. Mit Ausnahme von Frances fand niemand die Aussicht reizvoll, den Lazarus-Ohene-Betrug zu untermauern, und bei ihr konnte man sich nicht darauf verlassen, dass sie die Erfindung nicht noch weiter ausschmücken würde, wenn sich die Gelegenheit böte. Ich hob den Zeitungsausschnitt aus dem Evening Standard noch jahrelang auf, auf dem Mr. Radley, flankiert von den anderen Preisträgern und dem Vorsitzenden Preisrichter, mit vor Verlegenheit weit aufgerissenem Mund zu sehen war und seinen Scheck umklammerte. Die Bildunterschrift lautete: Gewinner des Sampson & Gold Porträtwettbewerbs 1982. (Von l nach r) Judy Quaid, Lonise Barrack und Lazarus Ohene erhalten von Sir Gerald Sampson ihre Auzeichnungen.
Wichtiger als das Preisgeld war jedoch für die Künstler, dass die Siegergemälde in einer privaten Galerie in Bloomsbury ausgestellt und zum Verkauf angeboten wurden. Es wurde viel Energie darauf verwendet, den Wert des Gemäldes festzulegen; nachdem Mr. Radley ein paar Minuten gewettert hatte, dass Lexis Porträt nicht mit Geld zu bezahlen sei, setzten sie einen Preis von dreihundert Pfund fest.
»Das erscheint mir immer noch ziemlich teuer«, sagte Lexi.
»Es ist einsachtzig mal einszwanzig. Auf dieser Leinwand befindet sich eine Unmenge Farbe«, sagte ihr Mann, für den materielle Interessen wieder ihre angemessene Bedeutung bekamen. »Ganz zu schweigen von der stundenlangen Arbeit, die darin steckt. Und wenn der Preis die Käufer abschreckte, umso besser. Ich will es sowieso nicht verkaufen.«
Frances und ich besuchten eines Abends nach der Schule die Ausstellung. Ich hatte die Eröffnung verpasst, weil sie sich mit einer Orchesterprobe überschnitt. Es war abgemacht, dass wir uns mit Lawrence dort treffen und er uns anschließend nach Hause bringen würde.
Der Galeriebesitzer war nicht an Schülerinnen als Kundinnen gewöhnt und beobachtete uns die ganze Zeit misstrauisch, als könnten wir plötzlich ein Gemälde einstecken und wegrennen. Mr. Radleys Gemälde, gerahmt, beleuchtet und an einer sauberen weißen Wand, schien plötzlich umso vieles authentischer als damals, als ich es auf dem Dachboden zum ersten Mal gesehen hatte, mit einem halben Dutzend anderer Versuche gestapelt wie eine gigantische Toastscheibe. Zwischen den anderen Ausstellungsstücken sah es sogar richtig heimisch aus: Lexis verzerrtes, verdrießliches Gesicht war bloß eins von vielen. Als wir ankamen, stand Lawrence schon davor, strich sich übers Kinn und sah nachdenklich aus. »Tja, es ist wirklich scheußlich«, sagte er zu mir, als Frances weitergegangen war. »Aber ist es Kunst?«
Das Siegerbild war ein Porträt von etwas, das ich für ein älteres Opfer eines Straßenraubs oder eines anderen gewalttätigen Angriffs hielt. Eine Gesichtshälfte hatte die Farbe von roher Leber, das Auge war auf eine Falte im verschwollenen Fleisch reduziert. Die unversehrte Hälfte war kaum ansprechender, jede Warze, jede Pockennarbe und jedes Nasenhaar im kleinsten Detail wiedergegeben. Ins Violette spielende Hautlappen hingen vom Kiefer bis zum Schlüsselbein, und ein Flecken Spucke schäumte im Mundwinkel. Lawrence zog eine Grimasse, ging weiter und stellte sich vor das Bild eines jungen Mädchens mit rasiertem Kopf und einem Spinnwebentattoo auf der Stirn, das ihm von der Leinwand entgegenfauchte.
»Glaubst du, wir können daraus schließen, dass Schmeichelei nicht mehr die Pflicht des Künstlers ist?«, flüsterte er.
Ein paar Gemälde hatten kleine orangefarbene Aufkleber neben dem Titel. »Wozu sind die denn?«, fragte ich Frances, als wir sie einholten.
»Die Aufkleber bedeuten, dass das Gemälde verkauft ist.« Wir drehten uns in einer synchronen Bewegung zurück zum Radley-Beitrag. »Dad regt sich wirklich darüber auf. Er hat das Geld schon ausgegeben.«
Offensichtlich war Mr. Radley, nachdem er ursprünglich den Gedanken an den Verkauf des Bildes weit von sich gewiesen hatte, inzwischen besorgt, dass er die Demütigung erleben würde, nach zwei Wochen der Einzige zu sein, dessen Gemälde noch nicht verkauft war. Zwischen
Weitere Kostenlose Bücher