Seekers - Die Letzte Große Wildnis: Band 4 (German Edition)
Gefäß und setzte sich wieder neben Ujurak. Dann schlang er einen Arm um Ujuraks Schultern und half ihm, sich aufzusetzen.
»So«, murmelte er und hielt Ujurak das Gefäß zum Trinken hin. »Wir werden das Fieber bald senken, dann kannst du wieder herumspringen.«
Ujurak empfand die Augen des Heilers als freundlich und die Berührung seiner Hände als stark und sicher.
»Wie heißt du, kleiner Bär?«, fragte Tiinchuu.
»Ujurak.«
»Und wie bist du hergekommen?« Der Heiler neigte das Gefäß, damit Ujurak die letzten Tropfen Tee trinken konnte, und stellte es beiseite.
»Ich war ganz schön überrascht, als du nackt vor meiner Hütte lagst«, fuhr er fort. »Bist du vielleicht vom Himmel gefallen?«
Ujurak riss erstaunt die Augen auf. Glaubt er das wirklich? Als er Tiinchuus belustigten Blick sah, lächelte er mühsam.
»Wo kommst du her?«, fragte der Heiler noch einmal.
Ujurak zögerte. »Ich weiß nicht, wo ich herkomme«, gab er zu. »Ich … ich erinnere mich nicht.«
»Hmm …« Tiinchuu erhob sich, befeuchtete ein kleines Tuch mit einer frisch duftenden Flüssigkeit und wischte Ujurak damit Gesicht und Kehle ab. Bei der kühlen Berührung seufzte Ujurak dankbar.
»Du bist kein Menschenjunges, nicht wahr?«, fragte der Heiler und sah Ujurak forschend an.
Ujurak dachte an die dunkle Höhle, die sich mit goldenem Licht gefüllt hatte, und an den Polarhasen, der ihn aus der Dunkelheit ins Freie gelockt hatte, ins Licht und in die Wärme. Der Geist des Hasen war da. Er spürte ihn in dem Alten, der neben ihm saß. Er ist ein Hase und ein Flachgesicht …
»Nein«, sagte Ujurak. »Ich bin ein Bär.«
Er machte sich darauf gefasst, dass der Heiler entsetzt aufspringen und weglaufen oder ihn der Lüge bezichtigen würde, aber Tiinchuu blinzelte nur kurz. »Und warst du auch ein Bär, als du den Angelhaken verschluckt hast?«
»Nein, da war ich eine Gans.«
Tiinchuus Augen weiteten sich überrascht. »Du hast den Geist von mehr als einem Wesen?«
Ujurak nickte. »Meistens bin ich ein Bär. Aber ich bin auch schon eine Gans gewesen und ein Adler und ein Maultierhirsch …«
»Dann bist du ein Gestaltwandler?«, unterbrach ihn der Heiler. In seinem Blick, der auf Ujuraks Gesicht ruhte, lag ein leidenschaftlicher, fast hungriger Ausdruck.
»Ja … wahrscheinlich.« Ujurak legte den Kopf zur Seite. »Wie ist es mit dir? Der Hase in der Höhle … das warst doch du, oder?«
Tiinchuu nickte. »Du hast viele Gestalten, aber ich habe nur zwei: den Menschen, den du jetzt siehst, und den Polarhasen. Meistens bin ich ein Mensch, aber in meinen Träumen werde ich zum Hasen, und dann erfahre ich Dinge, die ich in meiner menschlichen Gestalt nie erfahren würde.«
Ujurak erinnerte sich an die friedvolle Atmosphäre, die er in der Siedlung gespürt hatte, die Gewissheit, dass man sie hier nicht jagen würde. »Können das alle Flachgesichter hier?«
Der Heiler lächelte. »Flachgesichter? Na ja, die Bezeichnung ist wahrscheinlich nur logisch. Nein, kleiner Bär, alle können das nicht.« Tiinchuu lehnte sich zurück und musterte Ujurak. »Warum bist du hier?«, fragte er.
Ujurak fand diese Frage schwer zu beantworten. Er war sich ja selbst nicht sicher. »Ich … ich höre manchmal Stimmen«, stammelte er. Er wollte dem Heiler lieber nicht sagen, dass er Silaluk dahinter vermutete. Nicht einmal Tiinchuu würde glauben, dass die mächtige Sternenbärin zu einem einfachen Grizzlyjungen sprach.
Zu seiner Erleichterung fragte Tiinchuu nicht weiter, woher die Stimmen kamen. Stattdessen stand er auf, ging zum Feuer und schöpfte eine dicke, lecker duftende Flüssigkeit in ein kleines Gefäß.
»Was erzählen dir denn die Stimmen?«, wollte er wissen, als er zu ihm zurückkehrte.
»Sie sagen … sie sagen, dass ich die Wildnis retten soll.«
Tiinchuu schüttelte den Kopf und stieß einen langen Seufzer aus. »Das ist eine große Aufgabe«, murmelte er. »Hier, iss ein bisschen Suppe.«
Er setzte sich, tauchte einen Stock mit einer Mulde in die Schale und begann Ujurak zu füttern. Die Flüssigkeit war warm und schmeckte nach Karibufleisch und Kräutern. Als sich die Wärme in Ujuraks Körper ausbreitete, wurde er wieder schläfrig. Doch er wollte nicht schlafen. Er wollte Tiinchuu auch ein paar Fragen stellen, mehr über den Ort erfahren, an dem er sich befand, und über den Heiler, der sich um ihn kümmerte.
Vielleicht hat mich der Wegweiserstern ja zu ihm geführt?
»Wo sind wir hier?«, fragte er,
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