Seelen der Nacht
bleiben würde, als mir die Haare aus dem Gesicht zu kämmen und sie in einen Knoten zu binden. Dadurch wirkten zwar mein Kinn und meine Nase spitzer, andererseits erweckte ich damit wenigstens die Illusion von Wangenknochen, und noch dazu konnten mir die Haare nicht in die Augen fallen, von denen sie in letzter Zeit scheinbar magnetisch angezogen wurden. Kaum hatte ich alle Haare mit Haarnadeln befestigt, löste sich die erste Strähne. Ich seufzte.
Aus dem Spiegel blickte mich das Gesicht meiner Mutter an. Ich musste daran denken, wie schön sie ausgesehen hatte, wenn sie sich
zum Abendessen hinsetzte, und fragte mich, wie sie es geschafft hatte, dass ihre hellen Brauen und Wimpern so deutlich hervorgetreten waren, oder wieso ihr breiter Mund so anders gewirkt hatte, wenn sie mich oder meinen Vater anlächelte. Nach einem Blick auf die Uhr sparte ich mir den Versuch, eine ähnliche Transformation mit kosmetischen Mitteln zu bewerkstelligen. Ich hatte nur noch drei Minuten, um eine Bluse auszusuchen, wenn ich Matthew Clairmont, den angesehenen Professor der Biochemie und Neurowissenschaften, nicht in Unterwäsche begrüßen wollte.
Mein Kleiderschrank bot mir zwei Alternativen – schwarz oder mitternachtsblau. Die blaue hatte den Vorteil, sauber zu sein, in diesem Fall ein entscheidender Faktor. Außerdem hatte sie einen komischen Kragen, der hinten hochstand und sich wie ein Flügel um mein Gesicht schwang, ehe er in einen V-förmigen Ausschnitt abfiel. Die Ärmel waren relativ eng und mündeten in langen, steifen Manschetten, die leicht ausgestellt waren und irgendwo über dem Handrücken endeten. Gerade als ich den zweiten Silberohrring anlegte, klopfte es an der Tür.
Mein Herz begann zu flattern, als hätte ich ein Date. Ich zerquetschte den Gedanken augenblicklich.
Als ich die Tür öffnete, stand Matthew vor mir, groß und schneidig wie ein Märchenprinz. Anders als sonst trug er ausschließlich Schwarz, was ihn noch umwerfender aussehen ließ – und noch vampirhafter.
Er wartete geduldig auf dem Treppenabsatz, bis ich ihn begutachtet hatte.
»Wo sind meine Manieren geblieben? Bitte komm herein, Matthew. Genügt das als förmliche Einladung in mein Haus?« Das hatte ich irgendwo im Fernsehen gesehen oder in einem Buch gelesen.
Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Das meiste von dem, was du über Vampire zu wissen meinst, kannst du getrost vergessen. Es gibt keine mystische Barriere, die sich zwischen mir und einer schönen Jungfer erhebt.« Matthew musste leicht den Kopf einziehen, als er durch die Tür trat. In der einen Hand hielt er eine Flasche Wein, in der anderen ein paar weiße Rosen.
»Für dich.« Er betrachtete mich wohlgefällig und überreichte mir
die Blumen. »Kann ich die irgendwo bis zum Dessert abstellen?« Er sah auf die Flasche.
»Danke, ich liebe Rosen. Wie wär’s mit dem Fensterbrett?«, schlug ich vor und verschwand in die Küche, um eine Vase zu suchen. Meine andere Vase war in Wahrheit eine Weinkaraffe, wie ich dank des Weinkellners aus dem Gemeinschaftsraum des Lehrpersonals wusste, der mich ein paar Stunden zuvor in meinem Apartment besucht und sie mir gezeigt hatte, nachdem ich behauptet hatte, ich würde so etwas nicht besitzen.
»Perfekt«, erwiderte Matthew.
Als ich mit den Blumen zurückkehrte, war er damit beschäftigt, durchs Zimmer zu schlendern und die Kupferstiche zu betrachten.
»Die sind gar nicht schlecht«, erklärte er, während ich die Vase auf eine vernarbte Kommode aus der napoleonischen Zeit stellte.
»Leider sind es fast nur Jagdszenen.«
»Das ist mir nicht entgangen«, antwortete Matthew mit amüsiertem Lächeln. Ich wurde knallrot.
»Bist du hungrig?« Die Knabbereien und Drinks, die eine gute Gastgeberin vor dem Dinner servierte, hatte ich völlig vergessen.
»Ich könnte durchaus etwas essen«, sagte der Vampir grinsend.
Ich zog mich in die sichere Küche zurück und nahm zwei Teller aus dem Kühlschrank. Als ersten Gang gab es Räucherlachs mit frischem Dill nebst einem kleinen, artistisch aufgehäuften Kegel aus Kapern und gehackten Gürkchen, der auch als Garnitur zählen konnte, falls der Vampir kein Grünzeug vertrug.
Als ich mit den Tellern ins Zimmer trat, stand Matthew wartend neben dem Stuhl, der am weitesten von der Küche entfernt war. Der Wein stand in einer hohen Silberschale bereit, in der ich mein Kleingeld aufbewahrt hatte, die aber, wie mir der Weinkellner aus dem Gemeinschaftsraum bei seinem Besuch
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