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Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Titel: Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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E-Mails.« Er steckte die Briefe wieder in die Plastiktüte und legte sie weg. »Wir müssen etwas mit deinen Haaren machen. Weißt du noch, wir wollten doch zum Friseur.«
    Rún rückte ihre Haarspange zurecht.
    »Das ist schon okay.« Sie hantierte eine Weile mit der bunten, kindlichen Spange herum und sagte dann:
    »Oma hat mich angerufen.«
    »Ach?« Óðinn straffte sich. »Wann denn?«
    »Heute Mittag. In der Schule.«
    »Auf deinem Handy?«
    Rún nickte. Óðinn hatte gedacht, er sei der Einzige, der sie anrief. Er hatte sie gefragt, warum ihre Freunde aus der alten Schule sich nie meldeten, aber nur zur Antwort bekommen, sie hätte da auch nicht viel Kontakt zu anderen Kindern gehabt. Das hatte ihn zwar schockiert, aber er wusste auch nicht, wie man es ändern konnte. Lára hatte bestimmt ihr Bestes getan, und wenn es ihr schon nicht gelungen war, dann war es unwahrscheinlich, dass seine ungeschickten Versuche, Rúns Beliebtheitsgrad zu steigern, größeren Erfolg hätten.
    »Was wollte sie?«, fragte er.
    »Dass ich sie besuche, aber ich will nicht.«
    »Ich rede mit ihr. Ich sage ihr einfach, wie es ist.«
    Rúns machte ein so entsetztes Gesicht, dass es fast komisch war.
    »Ich sage ihr, dass du Ruhe brauchst.« Als Óðinn sah, dass sie das nicht beruhigte, fügte er hinzu:
    »Ich sage ihr einfach, dass wir die nächste Zeit zu zweit verbringen möchten und dass es erst mal keine weiteren Besuche gibt.«
    Das Entsetzen in Rúns Gesicht ließ nach, verschwand aber nicht ganz.
    »Und was ist mit Onkel Baldur? Darf ich den dann auch nicht mehr besuchen? Baldur und Sigga wollen mich doch am Freitag zu Pizza und einem Videoabend einladen, weißt du nicht mehr?«
    Sein Bruder hatte Rún das bei ihrem letzten Besuch versprochen, glückselig über die Bewunderung seiner Nichte.
    »Die Oma muss ja nicht genau wissen, was wir machen. Außerdem haben wir längst verabredet, dass du die beiden besuchst.«
    Eigentlich wollte er Rún nicht beibringen, dass es manchmal in Ordnung war, die Wahrheit ein bisschen abzuwandeln, aber ihr Wohlbefinden ging vor.
    Rún lächelte.
    »Okay. Kannst du es ihr dann jetzt sagen? Ich will nicht, dass sie mich morgen wieder anruft.«
    Es gab kaum einen Anruf, den Óðinn weniger gefürchtet hätte, aber Unangenehmes brachte man lieber schnell hinter sich.
    »Ja, mache ich.«
    Er musterte Rún, ihre dünnen Arme ragten aus dem knittrigen, verwaschenen T-Shirt mit dem Mickymaus-Aufdruck, das ihr bald zu klein sein würde. Ihr Nabel schaute heraus, und Óðinn erinnerte sich dunkel daran, wie abstoßend er es gefunden hatte, als Lára nach Rúns Geburt die Reste der Nabelschnur gesäubert und den schwarzen Stummel mit einem Ohrenstäbchen desinfiziert hatte. Das Kind hätte diesen Service jedenfalls nicht erhalten, wenn er von Anfang an mit ihm alleine gewesen wäre.
    »Vermisst du die Mama?«, fragte er sie.
    »Ja, schon. Ich versuche nicht so viel an sie zu denken, weil es mir sonst schlechtgeht. Nanna sagt, ich soll an die schönen Erlebnisse mit Mama denken. Ich soll sie in Erinnerung behalten. Dann wäre ich als Erwachsene froh, dass ich Mama nicht ganz vergessen hätte. Aber das ist so schwer. Wenn ich viel an Mama denke, bekomme ich noch schlimmere Albträume als sonst.«
    »Du brauchst keine Angst vor Träumen zu haben, Rún. Das ist nur irgendein Unsinn, den dein Gehirn produziert, wenn es schläft und durcheinander ist. Das hat dir die Therapeutin doch bestimmt erklärt. Träumst du auch manchmal, dass du fällst?«
    Rún nickte.
    »Und dass du fliegen kannst?«
    Rún nickte wieder, wobei die Spange in ihrem Haar verrutschte. Rún nahm sie heraus und steckte sie weiter nach oben.
    »Da siehst du es. Du fällst ja nicht wirklich, wenn du es träumst, und du kannst ganz sicher nicht fliegen. Das ist alles Unsinn.« Genauso wie Todgeweihte, die Geister wahrnehmen.
    »Ich weiß«, sagte Rún. »In den Träumen ist Mama immer böse auf mich.«
    »Sie ist nicht böse, Rún. Tote können nicht böse sein, das weißt du doch. Nach dem Tod ist alles Böse und Schlechte vergessen, und nur das Gute und Schöne bleibt zurück«, erklärte Óðinn mit sorgfältig gewählten Worten, wobei das Ergebnis nicht so überzeugend war, wie er sich gewünscht hätte. Offenbar zeigte die Therapie Wirkung, denn bisher hatte Rún sich jedes Mal, wenn er versucht hatte, über ihre Mutter und den Unfall zu sprechen, in ihre Schale zurückgezogen. »Du träumst vielleicht, dass Mama böse auf dich ist, aber

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