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Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Titel: Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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entgegnete sie lächelnd. »In meiner Familie ist es nämlich so, dass einem, wenn die Zeit bald abgelaufen ist, alle möglichen unerklärlichen Dinge widerfahren. Man hört und sieht Sachen, die gar nicht da sind. Die Geräusche, die ich bemerkt habe, gehören auch dazu. Ich habe keine Erklärung dafür, das ist vielleicht auch besser so, aber es wird sich alles fügen.«
    Óðinn schluckte.
    »Verstehe.«
    Er nahm den Werkzeugkoffer von der rechten Hand in die linke.
    »Sie hören also Dinge, die nicht da sind, und so was?«
    Vielleicht stimmte etwas nicht mit dem Haus, giftige Dämpfe von Farben oder Kunststoffen, die das Gehirn beeinflussten. Óðinn hätte nie geglaubt, dass er mal hoffen würde, etwas Giftiges einzuatmen.
    »Kann es nicht sein, dass diese Halluzinationen von irgendwelchen chemischen Substanzen herrühren?«, fragte er weiter.
    »Nein, nein, mein Lieber. Das ist ein Familiengeist, der hat nichts mit chemischen Substanzen zu tun. Meine Großmutter hat mir erzählt, dass das passiert, wenn man schon mit einem Bein im Grab steht. Wenn die Stunde des Todes naht, bekommt man eine Verbindung ins Jenseits. Ich habe das damals nicht so richtig geglaubt, aber jetzt weiß ich, dass es stimmt«, sagte sie und lächelte breit. »Dann hat man noch eine kleine Frist, um seine Vorkehrungen zu treffen.«
    »Sind Sie sicher, dass es nichts mit der Umgebung zu tun hat?«, fragte Óðinn und hätte der schmächtigen Frau am liebsten eine Zustimmung aus dem Leib geschüttelt. »Ich frage, weil ich Ähnliches erlebe, Dinge höre und sehe, die nicht da sind.«
    Der fröhliche Gesichtsausdruck der Frau verschwand, und sie wirkte noch gebrechlicher und schwächer als vorher.
    »Das gefällt mir nicht. Das gefällt mir ganz und gar nicht«, murmelte sie.

    Er war also dem Tode geweiht. Erst jetzt konnte Óðinn darüber lachen, zwei Stunden nachdem er zurück in seine Wohnung gekommen war. Was für ein Schwachsinn. Er grinste in sich hinein, während in den Nachrichten ein Panzer durch eine verlassene Straße kroch. Vielleicht hatten deren Einwohner in der letzten Zeit ähnliche Dinge erlebt wie er. Der Kanonenlauf drehte sich, und dann wurde auf ein Haus gefeuert, das in einer dunklen Rauchwolke verschwand.
    »Wer hat dir denn Briefe geschrieben, Papa?«, fragte Rún.
    Sie hielt die Tüte aus Róbertas Garage in der Hand. Óðinn hatte die Briefe draußen im Wagen gelassen, als Diljá und er wieder ins Büro gefahren waren, aus Angst, dass Diljá sie herumzeigen würde. Er wollte diesen ungewöhnlichen Ausflug nicht seinem Chef erklären müssen. Zu Hause angekommen hatte er befürchtet, jemand könne das Auto auf dem Parkplatz vor dem Wohnblock aufbrechen – ins Parkhaus wollte er ja nicht fahren –, und die Tüte und den Karton deshalb mit nach oben genommen.
    »Das sind aber viele Briefe. Sind die alt?«
    Óðinn winkte seine Tochter zu sich und versuchte, sich auf den Fernseher zu konzentrieren. Jetzt kam der Nachrichtenüberblick: Unruhen im Mittleren Osten und Auseinandersetzungen im Althing. Das hätten ebenso gut uralte Meldungen sein können. Er nahm Rún die Tüte aus der Hand, wobei ihre Finger an seinen entlangstrichen, ihre weich und kalt, seine rau und warm.
    »Das ist aus dem Büro, Schatz. Nichts Besonderes.«
    »Warum gibt es bei dir im Büro so alte Briefe?«
    »Das sind keine Briefe, die wir uns auf der Arbeit schreiben. Sie haben mit meinem Projekt zu tun. Ein alter Fall, nicht sehr schön«, sagte Óðinn, reckte sich nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. »Hast du schon Hausaufgaben gemacht?«
    Rún antwortete nicht.
    »Ich dachte, man soll keine Briefe von anderen Leuten lesen. Das hat Oma gesagt.«
    »Da hat sie auch recht, aber manchmal ist man zu bestimmten Dingen gezwungen. Ich habe diese Briefe noch nicht gelesen und muss es vielleicht auch gar nicht tun.«
    »Ich hab noch nie einen Brief geschrieben«, sagte Rún, ohne sich anmerken zu lassen, was sie von diesem Versäumnis in ihrem Leben hielt.
    Sie hatte sich ihr Pony mit einer Spange aus den Augen gesteckt, was Óðinn daran erinnerte, dass er letzte Woche mit ihr zum Friseur gehen wollte, es aber vergessen hatte. Es gab so vieles, was er mit ihr machen musste, dass er kaum hinterherkam. Wie schafften das die Leute mit mehr als einem Kind? Doch irgendwann wäre es so weit, dass Rún ihn nicht mehr so sehr brauchte.
    »Ich habe auch nicht viele geschrieben, obwohl ich viel älter bin als du. Ich schreibe nur

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