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Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Titel: Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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ganzen Tisch verstreut. Aldís nahm einen Lappen aus dem Spülbecken, fest entschlossen, sich davon nicht den Tag verderben zu lassen.
    »Du bist ja früh auf den Beinen.«
    »Ja«, antwortete er, trank von seinem Kaffee und stierte vor sich hin. Wenn sie wieder in Nordisland oder in Reykjavík wäre, müsste sie sich nie mehr mit Leuten abgeben, die geistig kaum anwesend wären.
    »Gibt’s dafür einen bestimmten Grund?«, fragte sie und schob das Wasser mit dem Lappen Richtung Spülbecken.
    »Ich hab nicht geschlafen, gehe gleich ins Bett.« Absurderweise trank er nach dieser Bemerkung einen Riesenschluck Kaffee. »Veigar hat mich gebeten, das Gelände zu bewachen. Er glaubt, dass sich hier nachts jemand rumtreibt.« Hákon trank wieder und fixierte sie über den Rand seiner Tasse. »Er hat dich in Verdacht.«
    Aldís spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss, drehte sich von ihm weg und wrang den Lappen aus.
    »Ich war letzte Nacht nicht draußen, falls du das meinst.«
    Sie war froh, sich in der Nacht nicht mit Einar getroffen zu haben. Sie musste sich eingestehen, dass sie liebend gerne mit ihm alleine gewesen wäre, wollte aber vorher mehr über ihn in Erfahrung bringen. Da ihr das bisher nicht gelungen war, musste sie ihn wohl einfach direkt fragen. Vielleicht würde sie das ja tun, wenn sie sich von ihm verabschiedete.
    »Wie kommt Veigar darauf, dass ich nachts draußen bin? Wobei das ja auch nicht verboten ist, wozu also einen Wächter aufstellen?«, sagte sie.
    »Ich glaube, er macht sich größere Sorgen darüber, dass du es nicht sein könntest«, antwortete Hákon.
    »Und hast du jemanden gesehen?«
    »Keine Menschenseele. Außer vielleicht den Mann im Mond.« Hákon stellte die Tasse ab und holte eine Schnupftabakdose aus seiner verschlissenen Jacke. Er klopfte eine Prise auf seinen linken Handrücken. Bevor er sie schnupfte, fixierte er Aldís, die seinem Blick diesmal standhielt. »Du weißt, dass dieser Junge nichts für dich ist, Aldís.«
    »Welcher Junge?«, fragte sie, obwohl sie genau wusste, wen er meinte.
    »Ich sage es dir nur, falls du ihn nachts heimlich triffst. Du bist zu schade für ihn.«
    Reste von schwarzem Tabak blieben in seiner Nase hängen.
    »Ich treffe ihn nicht«, protestierte sie schwach. »Und warum soll er so schlimm sein?«
    In ihren Tagträumen von einem neuen Leben, weit entfernt von diesem Ort, war Einar entweder bei ihr oder ganz weit weg. Wenn sie sich das Wiedersehen mit ihren Schulkameradinnen in Nordisland vorstellte, gehörte er dazu, denn die meisten von ihnen wohnten mit einem ihrer alten Klassenkameraden zusammen, die alles andere als spannend waren. In ihrer Stewardessen-Phantasie war Einar eher eine Nebenfigur, und wenn sie sich das Wiedersehen mit ihrer Mutter ausmalte, kam er gar nicht vor.
    »Wenn du meinst«, sagte Hákon, während ein dunkler Tabakstreifen aus seinem Nasenloch rann und auf seine Unterlippe zusteuerte. Aldís drehte sich der Magen um. Sie schaute weg, hielt sich mit beiden Händen am Spülbecken fest und würgte ein paar Mal, aber es kam nur schleimige Spucke. Hinter sich hörte sie Hákon murmeln: »Tja, wenn du meinst.«
    Ihr brach kalter Schweiß auf der Stirn aus, und sie wusste, dass sie kreidebleich war. Bei der Anstrengung stiegen ihr Tränen in die Augen, und ihre Wimperntusche war bestimmt verschmiert.
    »Ich bin krank«, sagte sie.
    »Nein, dir ist schlecht.« Hákon stand auf, trat zu Aldís ans Spülbecken und stellte seine leere Tasse hinein. »Und es ist Morgen.«
    Aldís spuckte Schleim aus und schaute ihn verständnislos an.
    »Was meinst du damit?«
    »Das wirst du schon noch merken«, entgegnete er und ging aus der Küche, wobei seine Hose um seine Stelzenbeine schlackerte.
    Aldís drehte sich wieder zur Spüle und würgte erneut. Diesmal kam ein kräftiger Schwall brauner Galle heraus.

    Aldís hatte das Telefonat aufgeschoben. Die ganze Freude über ihren Entschluss, zu kündigen und ihre Mutter anzurufen, war dahin, und zurück blieb dieselbe Hoffnungslosigkeit, die sie schon seit Wochen lähmte. Sie hatte sich zwar nicht mehr übergeben, aber bis zum Mittagessen war ihr immer noch ab und zu übel geworden: Rotz an der Nase eines Jungen, Reste von Hafergrütze in einer Schale, Kloakengeruch in der Toilette – das alles hatte ihre Kräfte fast überstiegen. Natürlich war es denkbar, dass sie sich nur eine Magen-Darm-Grippe eingefangen hatte, die vorüberging, und dass sie morgen genauso optimistisch und

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