Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
glücklich aufwachen würde wie an diesem Morgen. Dabei wusste sie eigentlich, dass das Träumerei war. Ihre Brüste spannten, und ihre Periode war überfällig. Mehr Beweise brauchte man nicht. Sie hatte nachgerechnet, wann sie das letzte Mal ihre Periode gehabt hatte, und wusste, dass sie fast zwei Wochen überfällig war. Nur wegen des ereignislosen Alltags im Heim hatte sie das nicht früher gemerkt. Die Tage waren eintönig, häuften sich hinter ihr auf und bildeten eine Vergangenheit, bei der sich kein Ereignis vom anderen abhob.
Aber sie würde sich nicht unterkriegen lassen. Nach dem Abendessen würde sie den Abwasch machen und sich genauso wie am Morgen, beim Mittagessen und den ganzen Nachmittag nichts anmerken lassen. Die Arbeit trieb sie voran, war ihr Halteseil, das sie davon abhielt, heulend zusammenzubrechen.
»Ich darf bald nach Hause.«
Tobbi stand plötzlich hinter ihr und grinste geheimnisvoll, als sie sich umdrehte. Er gab ihr seinen Teller, als sei das ein besonderes Geschenk. Er war zu spät zum Essen gekommen, weil er Veigar beim Reparieren des Stalldachs assistiert hatte.
»Stell den einfach auf den Tisch«, sagte Aldís und musterte den Jungen, sein zerzaustes Haar und seine feuerroten Wangen, die diese frische Farbe angenommen hatten, als er aus der Kälte ins Haus gekommen war. »Gratuliere, freust du dich?«
Sie wusste nicht, was er von ihr erwartete, und war zu zerstreut, um sich eine vernünftige Entgegnung einfallen zu lassen.
Tobbi trat von einem Bein aufs andere.
»Ja, klar.« Er kratzte sich am Scheitel. »Meine Mutter ist krank. Deshalb darf ich fahren.«
»Sie wird schon wieder gesund«, sagte Aldís, obwohl sie ahnte, dass die Aussichten nicht gut waren. Die Jungen durften nicht fahren, wenn ihre Eltern lediglich eine Grippe hatten. »Wann fährst du denn?«
»Morgen. Morgen früh.«
Tobbis dicke Zehen stachen durch die Socken. Seine Hose war zu kurz, und Aldís stellte fest, dass er ganz schön in die Höhe geschossen war, seit er im Herbst nach Krókur gekommen war. Aber er hatte nicht zugenommen, seine abgetragenen Klamotten waren noch genauso weit wie bei ihrer ersten Begegnung.
»Ich weiß nicht, ob wir uns noch mal sehen. Ich wollte nur tschüs sagen«, fügte er hinzu.
»Sehen wir uns denn nicht beim Frühstück?«, fragte sie mürrischer als beabsichtigt. Die Zutraulichkeit des Jungen berührte sie mehr, als sie in diesem Moment zugeben wollte. Es brauchte nicht viel, um sie zum Weinen zu bringen, und sie wollte es dem Kleinen nicht zumuten, sie heulen zu sehen. »Danke, Tobbi, ich werde dich vermissen.«
Sie presste ein Lächeln hervor.
»Ich höre auch bald auf, vielleicht treffe ich dich ja mal in der Stadt«, sagte sie dann.
»Wann denn? Ziehst du nach Reykjavík?«
Die Freude in seinem Gesicht war rührend. Ein Junge in seinem Alter sollte nicht so aufgeregt sein bei dem Gedanken an ein mögliches Wiedersehen mit einer erwachsenen Frau, die er kaum kannte.
»Dann kann ich dich vielleicht besuchen!«
»Ja, gerne«, sagte Aldís und wandte sich wieder dem restlichen Abwasch zu.
Tobbi machte keine Anstalten zu gehen, und Aldís hörte seinen Atem hinter sich.
»Darf ich es Einar erzählen?«, fragte er dann.
Aldís’ Hände erstarrten in dem schmutzigen Spülwasser. Durch das Loch ihres Gummihandschuhs stieg eine kleine Luftblase auf.
»Von mir aus.«
Sie hörte, wie Tobbi auf dem Absatz kehrtmachte und hinauslief, ganz aufgeregt, weil er etwas zu erzählen hatte. Eine weitere Luftblase suchte den Weg aus dem Gummihandschuh in die Freiheit, und Aldís spülte weiter. Dabei stießen zwei Gläser so heftig gegeneinander, dass eins davon zerbrach. Aldís fischte es heraus und warf es in den Müll. Sie hatte keine Lust, es hinter anderen Gegenständen zu verstecken, was sie normalerweise gemacht hätte, denn sie fürchtete sich nicht mehr vor Liljas und Veigars Gezeter. Sie hatte andere Sorgen. In diesem Moment fiel ihr auf, dass Tobbi es durchaus fertigbringen konnte, Veigar morgen im Auto auf ihre bevorstehende Kündigung anzusprechen. Sie musste unbedingt vorher mit ihm reden. Sie zog das letzte Glas aus dem schmutzigen Wasser und stellte es auf den Geschirrstapel auf dem Abtropfsieb, ohne sich darum zu kümmern, dass es beschlagen war und noch eine Milchschicht auf dem Boden hatte.
Aldís wusste, dass Lilja und Veigar in den Raum gegangen waren, der für religiöse Zwecke benutzt wurde. Sie gingen meistens nach dem Abendessen dorthin, angeblich
Weitere Kostenlose Bücher