Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
sie Lilja einen markerschütternden Schrei ausstoßen und hielt sich beim Laufen die Ohren zu. Die frische Luft tat ihr gut, und sie lächelte verzagt. Jetzt würden sie sie jedenfalls nicht mehr zwingen, ihre Kündigungsfrist einzuhalten.
Der Mond war noch an seinem Platz und die Sterne genauso am Himmel verstreut wie an anderen Abenden. Obwohl Aldís das Gefühl hatte, dass sich ihr Leben schlagartig verändert hatte, blieb die restliche Welt davon unbeeinflusst. Sie saß auf der Bank hinter ihrem Haus und starrte in die Dunkelheit. Als sie Schnee knirschen hörte, drehte sie nicht den Kopf, sondern stierte nur vor sich hin. Völlig egal, ob die Person vorbeigehen oder sie ansprechen würde.
»Tobbi hat mir gesagt, dass du hier bist.«
Einar setzte sich neben sie, die Hände in den Jackentaschen vergraben.
»Ja, ich muss von hier weg.«
Aldís hätte gerne eine Zigarette geraucht, als sie sah, wie sich vor Einars Nase Atemwölkchen bildeten. Aber Rauchen gehörte der Vergangenheit an. Vielleicht würde sie sich zur Feier des Tages eine genehmigen, wenn sich herausstellte, dass sie doch nicht schwanger war.
Einar stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Eigentlich hatte ich gehofft, dass es nicht stimmt«, sagte er.
Sie starrten beide in die schwarze Leere jenseits des Hofs.
»Veigar hat eben was über dich gesagt, Einar, für das ich eine Erklärung brauche.« Ohne ihn anzusehen, fuhr sie fort: »Es ist sehr wichtig für mich zu erfahren, was du angestellt hast und warum du hier bist. Ich kann dir im Augenblick nicht den Grund dafür nennen, aber dazu habe ich hoffentlich später noch Gelegenheit.«
Sie hörte ihn schwer atmen und sah aus dem Augenwinkel, dass er den Kopf hängen ließ.
»Ich muss es wissen, Einar. Du musst es mir anvertrauen.«
Und als Einar anfing zu erzählen, meinte Aldís, es könnte gar nicht mehr schlimmer kommen. Doch es wurde von Satz zu Satz schlimmer. Erst als sie bei der Tür zum kleinen Haus an dem toten Vogel im Schnee vorbeiging, kamen ihr die Tränen.
30. Kapitel
Diljá saß auf der Tischkante in Róbertas Box, wohin Óðinn nach dem Treffen mit Eyjalín geflüchtet war. Er wollte nicht zurück zu seinem Schreibtisch und sich mit seinen Kollegen unterhalten oder sich wieder mit dem Bericht befassen, den er garantiert nie abschließen würde. Am liebsten wäre er zur Tür hinausgestürmt, wusste aber nicht, wohin, und hatte deshalb dort Zuflucht gesucht. Diljá legte ihm die Hand auf die Schulter, und er spürte die Wärme ihrer Handfläche.
»Habe ich doch gesagt. So ist es nun mal, wenn man in einem kleinen Land lebt. Man trifft ständig auf alte Freunde oder Verwandte oder Geliebte. Hier sind alle irgendwie miteinander verwandt oder verbandelt.«
Óðinn stieß ein freudloses Lachen aus.
»Du sagst es.«
»Aber ich halte es für völligen Quatsch, das Projekt abzugeben«, sagte Diljá und verschränkte die Arme, so dass ihr wohlgeformter Busen nach oben gedrückt wurde und Óðinn für den Bruchteil einer Sekunde alle seine Probleme vergaß. Doch dann wandte er beschämt seinen Blick ab. »Ehrlich. Wer muss das denn wissen? Heimir würde es nicht merken, selbst wenn du es dir auf die Stirn tätowieren würdest.«
»Ich muss das Projekt abgeben. Es ist mir egal, wer von der Verbindung zwischen Aldís und mir weiß. Ich muss es tun.«
Er konnte sich unmöglich vor den Computer setzen und die neuen Erkenntnisse einfach so in den Bericht einfügen. Es war etwas völlig anderes, Vorgänge zu beschreiben, wenn man den Betreffenden kannte, vor allem, wenn die eigene Schwiegermutter und Großmutter der eigenen Tochter möglicherweise unter dem Verdacht stand, den Tod zweier Jungen vor vierzig Jahren verursacht zu haben. Da spielte es auch keine Rolle, dass die Frau, die das behauptete, höchst merkwürdig war.
»Ich habe schon genug mit mir selbst zu tun und würde immer denken, dass ich die Wahrheit abwandele, egal, wie deutlich ich Eyjalíns Anschuldigungen formuliere«, sagte er.
»Stehst du Aldís sehr nah?«
»Um Gottes willen, nein. Sie kann mich nicht ausstehen, und ich ertrage sie nicht«, antwortete Óðinn seufzend. »Ich denke dabei nur an Rún. Meine Tochter hat es wirklich schwer, und es wäre schrecklich für sie, eine Pressekampagne erleben zu müssen, wenn sich herumspricht, dass ihr Vater diese Untersuchung versaut hat und ihre Oma möglicherweise eine Mörderin ist.«
»Ach, komm schon. Diese Frau hat doch überhaupt keine Ahnung. Was ist denn schon
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