Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
dabei, wenn sich deine Schwiegermutter in diesen Einar verknallt hatte, wie Eyjalín behauptet? Ich habe noch nie gehört, dass junge Mädchen ihre Auserwählten umbringen. Und wie bekloppt ist die Alte eigentlich, immer noch in einen längst verstorbenen Jungen verliebt zu sein?« Diljá stand auf. »Die spinnt doch total! Das ist dir hoffentlich klar.«
Óðinn zuckte die Achseln. In seiner momentanen Verfassung war er kaum der Richtige, um zu beurteilen, wer verrückt war und wer nicht.
»Aber sie war richtig froh, Róberta kennenzulernen, das beruhte wahrscheinlich auf Gegenseitigkeit«, fuhr Diljá fort.
»Warum?«
»Róberta war einsam und hatte nicht viele Freunde, und dann taucht plötzlich eine elegante Dame auf, die in ihr ihre Retterin sieht und sie ins Vertrauen zieht. Das muss wie Drogen auf die arme Frau gewirkt haben. Bestimmt hat sie deshalb die Unterlagen mit nach Hause genommen, vielleicht wollte sie sich ja bei Eyjalín einschmeicheln und ihr die Briefe zurückgeben oder sicherstellen, dass sie nicht in den Bericht eingehen. Oder sie wollte sie selbst behalten. Jedenfalls ist Eyjalín der Grund dafür, dass Róberta der Fall so naheging. Du hast ja das Foto gesehen. Wer schenkt denn einer fremden Person ein gerahmtes Bild von sich? Und wer stellt so was zu Hause auf? Die waren beide nicht mehr ganz dicht. Du hättest Eyjalín bei der Beerdigung sehen sollen! Man hätte meinen können, sie würde sich von ihrer Zwillingsschwester verabschieden.«
»Das ändert nichts an meiner Entscheidung. Ich kann nicht länger an dem Fall arbeiten«, sagte Óðinn und rieb sich die Augen. Seine Lider fühlten sich von innen an wie Sandpapier. »Und dann war ich auch noch so unaufmerksam. Warum habe ich zum Beispiel Einars Geburtsjahr nicht bemerkt? Das stand doch alles an der Tafel.«
»In Róbertas Zusammenstellung gab es viel zu viele Details. Manchmal ist es besser, mit weniger zu arbeiten.«
»Du wirst das hinkriegen, Diljá. Das Projekt ist bei dir in viel besseren Händen. Du bist frei von jeglichen Verbindungen«, sagte Óðinn und starrte auf das Bild von den Jungen an Róbertas Wand. Die beiden starrten zurück, bis in alle Ewigkeit im Jahr 1974 gefangen. Óðinn wollte schnell im Kopf ausrechnen, wie alt sie heute wären, als ihm plötzlich ein Licht aufging. Er riss das Bild von der Wand. »O mein Gott.«
»Was ist?« Diljá beugte sich zu ihm und musterte das Foto. »Hast du das jetzt erst gesehen?«
»Nein, ich sehe erst jetzt, was drauf ist.«
Das Foto von Einar und Tobbi war Anfang 1974 in Krókur aufgenommen worden, vor dem fünften März, als sie in dem Auto starben. Lára war im November 1974 geboren. Ihre Züge waren in dem jugendlichen Gesicht des Jungen gut zu erkennen. Óðinn stöhnte. Das erklärte auch Eyjalíns Hass auf Aldís, die wohl eine engere Beziehung zu Einar gehabt hatte, als Eyjalín vorhin angedeutet hatte. Sie hatte behauptet, Aldís sei ihm hinterhergelaufen, habe aber von ihm einen Korb bekommen. Und deshalb wollte sie Aldís wahrscheinlich auch für Einars und Tobbis Tod verantwortlich machen, nachdem ihre Theorie über Veigar nicht aufgegangen war.
Óðinn versuchte sich daran zu erinnern, was Lára über ihren Vater erzählt hatte. Sie hatte ihn nur äußerst selten erwähnt, und Óðinn hatte sich auch nicht besonders für ihre Familie interessiert. Er wusste nur noch, dass ihr Vater gestorben war, als ihre Mutter mit ihr schwanger gewesen war, und dass ihre Eltern nicht zusammengelebt hatten. Er erinnerte sich dunkel, dass Láras Vater aus Westisland stammte und seine ganze Familie dort gelebt hatte, konnte sich aber auch irren. Lára trug den Nachnamen Karlsdóttir, also Tochter von Karl, was gleichzeitig ein isländisches Wort für »Mann« war. Das war üblich, wenn die Vaterschaft unklar war oder die Mutter sie geheimhalten wollte. Es bestand kein Zweifel: Einar war Láras Vater und Rúns Großvater.
»Ich bin für heute weg. Ich kann nicht mehr.«
Desinteressiert blätterte Óðinn im Wartezimmer eine weitere Illustrierte durch. Er verstand nicht, warum er das machte, fast war es, als ginge es ihm ein bisschen besser, wenn er Fotos von sorgenfreien ausländischen Prominenten betrachtete, die er überhaupt nicht kannte. Vielleicht sollte er ja mit seiner Tochter ein neues Leben im Ausland beginnen, weit weg von Láras Grab und allem, was mit ihr zu tun hatte, weit weg von Aldís und ihrer schwierigen Vergangenheit. Er legte die Zeitschrift weg. Das
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