Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
Ausland war keine Lösung, Rún und er würden nie wie die schönen und glücklichen Menschen auf den Fotos werden. Aber wer wusste schon, ob der Vater und die Tochter, die er in einer Golfzeitschrift gesehen hatte, nicht mit denselben Problemen zu kämpfen hatten wie sie. Vielleicht befürchtete der Vater, dass er die Mutter seines Kindes umgebracht hatte und dass seine Schwiegermutter den Großvater seiner Tochter getötet hatte. Und wenn sie ihre Golfschläger wegstellten, verfielen sie in Depressionen. Eher unwahrscheinlich.
Óðinn vermutete, dass die Therapeutin und ihr Kollege absichtlich keine Uhr im Wartezimmer aufgehängt hatten. Das Ticken des Uhrwerks löste womöglich bei ihren Klienten Ängste aus, und obwohl Óðinn nichts anderes zu tun hatte, als auf Rún zu warten, war es unglaublich verlockend, sein Handy herauszuholen und den Fortlauf der Zeit zu verfolgen. Plötzlich ging die Tür auf, und Rún kam mit Nanna in den Raum, die Wangen gerötet. Óðinn schaute von seinem Handy auf. Die Stunde war erst in zehn Minuten zu Ende.
»Können wir uns kurz unterhalten?«, fragte ihn Nanna und lächelte Rún freundlich zu. »Du kannst so lange hier warten, Rún. Im Regal sind Mickymaus-Hefte.«
Rún ging schweigend an Óðinn vorbei, setzte sich und ließ den Kopf hängen. Es tat ihm leid, sie zurückzulassen, aber er fühlte sich gezwungen, auf Nannas Bitte einzugehen. Als die Therapeutin die Tür hinter ihnen zuzog, sah er, wie Rún aufschaute, und ihre Blicke trafen sich für einen Moment, bevor die Tür ins Schloss fiel.
»Bitte nehmen Sie Platz. Ich will Sie nicht lange aufhalten.«
»Das wäre gut. Wir haben noch eine Verabredung.«
Das war gelogen, aber Óðinn wollte schnellstmöglich wieder zu seiner Tochter.
»Aha«, sagte Nanna, die aussah, als müsse sie einen Sterbefall bekanntgeben. »Ich wollte nur noch mal mit Ihnen über Ihre Bitte reden, mit Rún nicht über den Tod ihrer Mutter zu sprechen.«
»Ja, das möchte ich nicht«, entgegnete Óðinn, der keine Ahnung hatte, wie er reagierten sollte, wenn sie ihn nach dem Grund dafür fragte.
»Ich weiß nicht, was Sie dagegen haben, aber ich muss sagen, dass ich das sehr unvernünftig finde. Natürlich akzeptiere ich es, aber bitte überdenken Sie Ihre Einstellung noch mal.«
»Das mache ich nicht. Nicht jetzt.«
Ihre Augen blickten ihn irritiert an.
»Sie wollten, dass Ihre Tochter eine Therapie bei mir macht. Ihr selbst gefällt das gar nicht, wobei Kinder meistens andere Dinge lieber tun, als mit mir zu reden. Rún ist weder auf ärztliche Anweisung noch aufgrund einer therapeutischen Indikation hier, deshalb rechne ich damit, dass sie nicht mehr kommen darf, wenn ich Ihnen sage, dass ich nicht weitermachen kann, ohne den Tod ihrer Mutter miteinzubeziehen. Oder wie sehen Sie das?«
»Ja, das stimmt«, sagte Óðinn. Er sehnte sich danach, ihr seine Sorgen anzuvertrauen, sich zu öffnen und ihr sein Herz auszuschütten. Aber das ging nicht. Nanna müsste zur Polizei gehen, wenn sich herausstellte, dass er vermutete, Lára aus dem Fenster gestoßen zu haben. »Vielleicht können wir später darüber reden, aber nicht jetzt.«
»Dann fürchte ich, dass ich nicht viel für Rún tun kann«, sagte Nanna ehrlich enttäuscht. Sie faltete die Hände, und Óðinn bemerkte, wie klein und schlank ihre Finger waren. »Dieser Vorfall liegt wie ein Albtraum auf Ihrer Tochter. Er ist zwar nicht das Einzige, was sie plagt, aber das Schwerwiegendste.«
»Nicht das Einzige?«, fragte Óðinn und richtete sich auf. »Was meinen Sie?«
»Das Verhältnis zu ihrer Großmutter scheint komplizierter zu sein, als ich am Anfang dachte. Rún hat richtige Angst vor ihr. Außerdem gab es ein paar ungeklärte Dinge zwischen Rún und ihrer Mutter, die nichts mit deren Tod zu tun haben. Rúns Leben war nicht einfach«, antwortete sie und entfaltete ihre Hände wieder. »Daran sind Sie nicht ganz unschuldig, wie Sie wahrscheinlich wissen.«
Óðinn hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Es tat weh zu hören, dass er versagt hatte, aber er nahm die Schuld auf sich.
»Das ist mir bewusst, aber ich versuche, es wiedergutzumachen. Leider kann ich es nicht rückgängig machen.«
»Es reicht nicht, das zu sagen. Als Wochenendvater konnten Sie sich ein schönes Leben machen und andere Dinge vernachlässigen, aber jetzt sind Sie auch mit den schwierigen und langweiligen Sachen konfrontiert, mit dem Alltäglichen. Sie dürfen Ihre Tochter nicht enttäuschen.
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