Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
Óðinn jetzt froh, Kalli anrufen zu können, ohne dass der Anruf wie aus heiterem Himmel gewirkt hätte. Nicht ganz.
»Warum hast du mir nicht erzählt, dass Lára wieder mit jemandem zusammengelebt hat?«, fragte er, ohne sich lange mit Höflichkeiten aufzuhalten und sich für den späten Anruf zu entschuldigen. Er merkte, wie konfus das klang, zumal er wegen Rún auch noch leise sprach. »Entschuldige, habe ich dich etwa geweckt?«
»Nein«, antwortete Kalli nicht besonders freundlich. »Aber wenn du zehn Minuten später angerufen hättest, hätte ich schon geschlafen. Drehst du jetzt völlig durch? Du klingst zumindest so. Was hätte ich dir denn erzählen sollen?«
Óðinn hatte keine Lust, sich weiter zu entschuldigen.
»Ich weiß nicht. Zum Beispiel, dass meine Tochter mit einem Fremden unter einem Dach lebt. Du hast das mit keinem Wort erwähnt.«
Óðinn meinte, am anderen Ende der Leitung ein Stöhnen zu hören.
»Willst du mich verarschen?«, sagte Kalli dann.
»Nein, ich frage nur. Warum hast du mir nichts davon erzählt? Und sonst auch niemand? Ich glaube einfach nicht, dass du das nicht wusstest.«
Das war furchtbar ungerecht, aber er konnte es nicht ändern. Wenn er seine Freunde getroffen hatte, war nie über Lára gesprochen worden.
»Ich war nicht der Einzige, der das wusste, falls du das glaubst, Óðinn, und wenn du meinst, dass es dir und der Kleinen bessergeht, wenn du in der Vergangenheit herumwühlst, kann ich dir auch nicht helfen. Dieser Typ war nichts Besonderes. Er hieß Logi oder Láki …«
»Logi Árnason.«
»Ja, Logi. Er war Künstler, Maler oder so, jedenfalls nicht mein Fall. Ich habe ihn ein paarmal getroffen, aber Lára hat uns nicht mehr zum Essen eingeladen, nachdem sie gemerkt hatte, dass wir nichts miteinander anfangen konnten.« Kalli holte tief Luft, als wolle er weiter über Logi herziehen. »Jedenfalls, als sie zusammengezogen sind, hat Helena sie nur noch alleine besucht, und ich durfte schön zu Hause sitzen. Und als sie sich dann getrennt haben, hat Helena erzählt, der Typ wäre ein totales Arschloch. Ich hab nur an den richtigen Stellen ja und nein gesagt, meistens ja, sonst wäre ich bestimmt auch noch in die Schusslinie geraten. Du weißt ja, wie das ist, wenn Frauen über ihre Exfreunde reden.«
Das wusste Óðinn nicht, er konnte sich aber durchaus vorstellen, wie Lára und Helena über ihn geredet hatten. Und Kalli zu allem ja gesagt hatte. Aber das Thema ließ er jetzt lieber aus.
»War er ein Schläger? Hat er sie verprügelt?«, fragte er stattdessen.
Kalli lachte.
»Nee, das hätte ich bestimmt mitgekriegt. Ich glaube, das war ein ganz normaler Typ, ein bisschen unangenehm, aber nicht wirklich schlimm. Lára ist nach eurer Scheidung mal an so einen Schlägertypen geraten und hätte das nie mit sich machen lassen. Der ist damals beim ersten Schlag in hohem Bogen rausgeflogen. Sie war ja schließlich nicht blöd.«
»Logi war also nicht der erste Mann, mit dem sie nach unserer Trennung zusammen war?«
Im selben Moment, als Óðinn den Satz ausgesprochen hatte, merkte er, wie lächerlich das war. Lára war eine junge Frau gewesen, die dieselben Bedürfnisse gehabt hatte wie er. Auch wenn sie sich um Rún gekümmert hatte, war damit nicht gesagt, dass sie wie eine Nonne leben musste. Er war ja auch nicht ins Kloster gegangen. Der Unterschied war nur, dass es ihm nach der Scheidung nicht gelungen war, eine ernsthafte Beziehung einzugehen.
»Hm, da gab’s ein paar. Nicht viele. Du machst wahrscheinlich das Rennen, wenn es um Bettgeschichten geht, falls dir das hilft.«
»Nee, das ist mir völlig egal. Gut, wenn sie welche hatte«, sagte Óðinn und erklärte Kalli genauer, was er damit meinte, denn er wollte ihn nicht als Freund verlieren oder von ihm für verrückt gehalten werden. »Nachdem ich einen Blick in den Polizeibericht geworfen habe, dachte ich erst, Lára sei vielleicht gestoßen worden, aber dafür gibt es keine Beweise. Als ich dann gelesen habe, dass sie sich kürzlich von einem Typen getrennt hat, dachte ich, dass es vielleicht doch nicht so einfach ist. Der könnte ja was damit zu tun haben. Aber das ist bestimmt Quatsch. Ich bin im Moment einfach nicht besonders gut drauf.«
»Kein Problem, Óðinn, du kannst mich gerne anrufen, sooft du willst. Nur vielleicht ein bisschen früher.«
An anderen Tagen wäre Óðinn das vielleicht peinlich gewesen, aber seine Probleme hatten ein Ausmaß erreicht, bei dem ein blamables
Weitere Kostenlose Bücher