Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
Telefonat auch nichts mehr ausmachte.
Draußen tobte der Sturm über die Sumpf- und Schotterflächen und schlug noch heftiger gegen die Fenster als vorher. Óðinn spürte, wie das Pochen in seiner Stirn bei jeder Böe stärker wurde. Dann sah er, wie sich die Vorhänge aufbauschten und zurück ans Fenster fielen. Und doch nicht ganz. Hinter ihnen schien sich eine Gestalt abzuzeichnen. Eine kleine Gestalt. In Láras Größe.
Nichts auf der Welt hätte ihn dazu gebracht, an den Vorhängen hinunter zum Fußboden zu schauen. Den Anblick von zerschmetterten, gebrochenen Beinen hätte er nicht ertragen. Natürlich war das Einbildung, aber er sammelte trotzdem schnell die Unterlagen ein, schaltete das Licht aus und ging aus dem Wohnzimmer – man konnte ja nie wissen.
7. Kapitel
Januar 1974
Von allen Aufgaben, die Aldís zu erledigen hatte, fand sie es am schlimmsten, Veigars Büro zu putzen. Nicht, weil es groß war, im Gegenteil. Es war eine kleine Kammer, in die man gerade mal einen Schreibtisch, drei Regale und einen Gästestuhl gequetscht hatte, der bei Langbeinigen Beklemmungen auslösen musste. Ein paar Jungen im Heim waren lange Lulatsche, und sie fühlten sich zweifellos noch mieser, wenn ihnen im Büro der Kopf gewaschen wurde. Jedenfalls war es ziemlich schwierig, sich darin zu bewegen, und Aldís musste bei den himmelhohen Papierstapeln auf dem Schreibtisch immer aufpassen, da sie jeden Moment einzustürzen drohten. Sie hatte oft überlegt, was wohl in diesen Papieren stand und warum Veigar sie nicht entsorgte. Ein paarmal hatte sie die obersten Seiten überflogen, ohne etwas Bemerkenswertes zu entdecken, sich aber nie dazu verleiten lassen, die Stapel genauer durchzuforsten, aus Angst, der Heimleiter könne sie dabei überraschen. Er tauchte manchmal urplötzlich auf, wenn sie gerade putzte, um sich zu vergewissern, dass sie nicht herumtrödelte.
Aldís zuckte zusammen, als das Telefon auf dem Schreibtisch plötzlich klingelte, und die Stapel erzitterten. Sie fegte gerade in einer Ecke und richtete sich so abrupt auf, dass sie mit der Schulter gegen ein wuchtiges Bücherregal stieß. Sie stellte den Besen weg, massierte ihre schmerzende Schulter und starrte das schwarze Telefon an. Dann verstummte es. Aldís wollte weiterfegen, als es erneut lautstark anfing zu klingeln. Nach neunmal Klingeln wurde es wieder totenstill. Aldís starrte das Gerät an und stellte fest, dass es noch nie geklingelt hatte, wenn sie im Büro gewesen war. Sie stand wie hypnotisiert da und hatte das Gefühl, das Telefon warte nur darauf, dass sie weiterputzte, um wieder loslegen zu können.
Sobald sie den Besen wieder in die Hand genommen hatte, plärrte das Ding los. Bei jedem Klingeln wurde Aldís unruhiger und hatte den Eindruck, als hätte der Anruf etwas mit ihr zu tun. Vielleicht wollte ihre Mutter Veigar erzählen, was für ein Nichtsnutz sie sei, ihm sagen, dass sie sie bei der Polizei angezeigt habe, weil sie an jenem Abend, als sie das Haus verlassen hatte, Geld aus ihrem Portemonnaie geklaut habe. Das war vielleicht etwas weit hergeholt, aber man konnte nie wissen. Ihre Mutter hatte nicht den geringsten Versuch unternommen, Kontakt mit ihr aufzunehmen, also musste sie immer noch sauer auf sie sein. Sie hätte ja anrufen oder schreiben können, denn sie wusste, wo Aldís sich aufhielt. Aldís’ Freundin, bei der sie in den ersten Nächten nach ihrem plötzlichen Aufbruch Zuflucht gesucht hatte, hatte ihrer Mutter von der Anzeige erzählt, auf die sie sich beworben hatte: Junge Frau zum Putzen und Kochen in Erziehungsheim in Hauptstadtnähe gesucht, Bezahlung nach städtischem Angestelltentarif und so weiter. Aldís hatte nicht wissen können, dass man dabei ziemlich großzügig mit den Tatsachen umging – Krókur war zwar wesentlich näher an Reykjavík als an Akureyri, aber »in Hauptstadtnähe« entsprach keineswegs der Wahrheit. Doch das hätte auch nichts geändert, denn sie hatte unbedingt so bald wie möglich weggewollt.
Vielleicht war ja ihre Freundin am Telefon? Aldís rief sie immer von einer Telefonzelle aus an, wenn sie mal in die Stadt kam. Sie wurden sich jedoch bei jedem Telefonat fremder, und Aldís glaubte nicht, dass sie sich in der nächsten Zeit noch mal bei ihr meldete. Vielleicht hätte ihre Freundschaft gehalten, wenn Aldís sie ab und zu heimlich von dem Telefon im Büro aus angerufen hätte, aber das konnte man nicht wissen. Sie waren in erster Linie Freundinnen geworden, weil sie sich
Weitere Kostenlose Bücher