Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
und drehte sich zu Óðinn um. »Es spielt zwar keine Rolle, was ich denke, aber ich sage es Ihnen trotzdem.«
»Natürlich.« Óðinn trat automatisch einen halben Schritt zurück, da die Frau plötzlich unangenehm nah bei ihm stand. »Möchten Sie nicht, dass ich mit ihm rede?«
»Ich weiß nicht so genau. Ich mache mir eher Sorgen über zwei Dinge, die negativen Einfluss auf seine Abstinenz haben könnten.« Sie nahm all ihren Mut zusammen, hob den Zeigefinger und sagte: »Schuldzuweisungen.« Dann hob sie den Mittelfinger und ergänzte: »Hoffnungen auf Geld.« Sie hielt ihre Hand noch höher und hätte Óðinns Nase zwischen ihre Finger klemmen können.
»Was meinen Sie mit Schuldzuweisungen?«
Die Frau ließ ihre Hand sinken.
»Es ist sehr wichtig, dass man, wenn man sich selbst aus dem Sumpf ziehen will, Verantwortung für sein eigenes Leben übernimmt. Sich nicht ständig bemitleidet und den Kopf darüber zerbricht, wer oder welche Umstände daran schuld waren, verstehen Sie?«
»Ich bin mir nicht sicher. Wenn jemand ungerecht behandelt wird, hat er ein Recht auf eine Entschädigung, egal, welchen Weg er im Leben eingeschlagen hat. Das ist jedenfalls meine Meinung.«
Die Frau atmete scharf durch die Nase ein, so dass sich ihre Nasenlöcher aufblähten.
»Dem will ich gar nicht widersprechen. Was ich meine, ist, dass Süchtige, die wieder auf die Füße kommen wollen, nach vorne und nicht zurück auf ihr eigenes Schicksal blicken sollen. Alle haben tragische Dinge erlebt. Manche noch schlimmere als wir. Sie können sich ja denken, dass wir uns im Traum nicht vorgestellt hätten, mal so zu enden. Wenn man nach den Ursachen für sein Unglück sucht, stellt man fest, dass man die Sucht in die Wiege gelegt bekommen oder das Leben einen von Anfang an gehasst hat. Oder beides. Dann ist man so deprimiert über diese schreiende Ungerechtigkeit, dass man in Selbstmitleid ertrinkt. Natürlich hat das auch seine Berechtigung, aber es ändert nichts. Man ist noch genauso fertig wie vorher.«
»Ich habe nicht vor, so etwas zu befördern, jedenfalls nicht absichtlich. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Jungen in Krókur schlecht behandelt wurden. Eigentlich hoffe ich, das bestätigt zu bekommen, aber ich werde auch noch mit anderen reden, mit so vielen wie möglich.«
Ein kurzes Röcheln, das wohl ein Lachen sein sollte, drang aus ihrem Hals.
»Nicht schlecht behandelt, sagen Sie? Da sind Sie aber ziemlich optimistisch.«
»Wollen Sie auf Breiðavík und die anderen Heime anspielen? Ich hoffe, dass das eher Ausnahmen als die Regel waren.«
»Sie können hoffen, was Sie wollen. Aber das ändert nichts daran, dass man Kinder, wenn man sich anständig um sie kümmert, gern haben muss. Die Leute verhalten sich unmöglich, wenn es um anderer Leute Kinder geht. Besonders, wenn sie frech, schwierig und hilflos sind. Bei Kleinkindern ist das vielleicht etwas anderes, aber Heranwachsende und Jugendliche haben bei Fremden nie eine Chance. So einfach ist das.«
Óðinn wollte sie nicht auf die unzähligen Adoptionen hinweisen, die vielen Kindern Glück gebracht hatten, zumal es ihr wohl eher darum ging, wenn Kinder über einen kürzeren Zeitraum bei Fremden lebten. Und da war ja auch etwas Wahres dran. Viele Dinge, die man bei seinem eigenen Kind erduldete, ließ man fremden Kindern nur schwer durchgehen. Wenn Rún bei ihm zu Hause zu Gast wäre, hätte er bestimmt auch manchmal die Beherrschung verloren bei ihren ständigen Stimmungswechseln und ihrem respektlosen Verhalten.
Die Frau machte kehrt, ging in den Flur und klopfte an eine Tür, ziemlich fest. Dahinter hörte man jemanden etwas Unverständliches rufen, Kegga legte ihre sehnige Hand auf die Türklinke und machte auf.
»Bitte sehr. Ich bin vorne, falls etwas ist.«
Dann ging sie, ohne die beiden Männer einander vorzustellen oder nachzuschauen, ob Pyttis Zustand es erlaubte, Óðinn zu empfangen.
»Kommen Sie rein«, begrüßte ihn eine männliche Ausgabe von Keggas rauer Stimme.
Auf einem schmalen Bett, das aussah wie aus einem Billigladen, saß ein Mann. Das Bettzeug war bunt durcheinandergewürfelt, das Kissen geblümt, die Bettdecke gestreift und das Laken rosa. Der Rest sah ähnlich aus: Der Nachttisch war eindeutig aus der Resterampe, ebenso wie der Stuhl, der vor einem kleinen Schreibtisch stand, und der kleine Einbauschrank, der einem normalen Mann kaum für Socken und Unterwäsche gereicht hätte, aber anscheinend genug Platz für die
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