Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
bestimmten Grund, oder ging es Ihnen generell schlecht?«, fragte er.
Der Mann lehnte sich auf dem Bett zurück und legte nachdenklich seine verkrümmte Hand an sein Kinn. Er zitterte so stark, dass seine Finger Klavier zu spielen schienen.
»Es war einfach schrecklich und irgendwie so sinnlos. Ich war wegen einer dummen Sache dort, hatte bei einem Wutanfall eine Fensterscheibe in der Schule kaputtgemacht. Wer bekommt denn heutzutage für so was ein Jahr Knast?«
»Niemand«, entgegnete Óðinn nur. Schließlich war er nicht hier, um auf Vorwürfe einzugehen oder die damaligen Entscheidungen der Kinderschutzbehörden zu rechtfertigen. »Wir hätten tagsüber in der Schule sein und abends den Mädchen nachstellen sollen, anstatt am Arsch der Welt die Tage bis zu unserer Entlassung zu zählen.«
»Wurden Sie dort nicht unterrichtet?«
»Nein, ach wo.« Er überlegte. »Doch, irgendwas haben sie schon versucht, in unsere Köpfe zu kriegen, aber die meiste Zeit arbeiteten wir auf dem Hof.« Pytti hustete wieder. »Als Kind war ich gut in der Schule, aber zu Hause bekam ich keine Unterstützung, und am Ende gab ich einfach auf und spielte verrückt.«
Der Mann wandte seinen Blick von Óðinn ab und starrte an die Wand hinter ihm. Vielleicht dachte er darüber nach, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er eine normale Erziehung genossen hätte. Jedenfalls bekam Óðinn diesen Gedanken nicht mehr aus dem Kopf, doch als Pytti weitersprach, ging es um etwas anderes.
»Zwischen diesem sogenannten Unterricht und der Schufterei auf dem Hof mussten wir uns christliches Gewäsch anhören. Und diese selbsternannten Prediger strahlten wirklich nicht vor Nächstenliebe. Wir sollten wohl zur Erleuchtung geführt werden. Den Irrwegen abschwören, nannte man das.« Wieder ein rasselndes Lachen. »Haben Sie zufällig eine Zigarette?«
»Nein, leider nicht.« In diesem Moment bedauerte Óðinn es, nicht zu rauchen. Er hätte dem Mann gerne etwas Tabak zugesteckt. »Im Heim waren ja fünf bis zehn Jungen gleichzeitig. Da gab es doch bestimmt auch Reibereien. Wie sahen denn die Strafen aus?«
»Das Übliche halt. Man wurde beiseitegenommen und ausgeschimpft. Manchmal wurde man in ein Zimmer gesperrt und musste die Bibel lesen. Bekam kein Abendessen. Musste den Kuhstall ausmisten. Da gab es mehrere Möglichkeiten.«
»Auch körperliche Strafen?«
»Man hat schon mal ein paar Rempler abbekommen. Ich glaube, ich habe auch mal einen Zahn verloren.«
Óðinn machte sich eine Notiz.
»Wer hat Sie geschlagen?«
»Veigar. Der Heimleiter. Dieses alte Dreckschwein. Der war damals wahrscheinlich jünger als ich jetzt.«
»Er war noch keine vierzig.« Óðinn legte den Stift weg. »Hatte er eine lose Hand?«
»Ach, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Er ist leicht aus der Haut gefahren. Nichts Ernstes, so gesehen. Einige Jungs waren es gewohnt, dass auf nicht eingehaltene Vorschriften Ohrfeigen folgten, und machten sich nicht viel daraus, aber anderen setzte es schon zu. Die Alte war wesentlich schlimmer, obwohl sie uns nie geschlagen hat. Ich hätte ein paar gute, alte Schläge jedenfalls ihrem verdammten Blick vorgezogen.«
»Ihrem Blick?«
»Ja, die war total durchgeknallt. Starrte einen an, als könnte sie einem mit den Augen ein Loch in den Kopf bohren. Das war schrecklich. Und sie erzählte alle möglichen abartigen Sachen, bis man am ganzen Leib zitterte.«
»Ach? Was denn zum Beispiel?«
»O Mann, ich weiß nicht, ob ich mich daran unbedingt erinnern will.« Er leckte sich über die Lippen, und als seine Zunge aus seinem Mund schoss, wirkte sie im Verhältnis zu seinem grauen Gesicht übertrieben rot. »Zitate aus der Bibel und irgendeinen Schwachsinn, wie sündhaft und armselig wir wären. Dass wir im Dreck landen würden. Das war das Schlimmste, was einem passieren konnte, dann würde nie was aus einem werden. Ich glaube, das war für mich das Schlimmste. Klar wusste ich das auch selber, aber manchmal konnte man es einfach vergessen, und es war nicht schön, daran erinnert zu werden.«
Óðinn atmete tief ein und wünschte sich, an einem anderen Ort zu sein. Vor seinem Computer, wo er Rún im Blick hätte. Es war furchtbar schwer einzuschätzen, was ein Bericht über die brutale Behandlung der Jungen nach so langer Zeit bewirken könnte. Keine Entschädigung wäre hoch genug, um diesen Schaden wiedergutzumachen. Und was genau hatte der Heimaufenthalt bei den Jungen ausgelöst? Wäre das Leben dieses Mannes anders
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