Seelen
aber noch vor eurer Zeit. Ich war nicht dabei, aber ich erinnere mich an einiges, woran sich die Mutter der Mutter meiner Mutter erinnerte.«
»Wie alt bist du denn?«, fragte Ian, wobei er mich mit seinen leuchtend blauen Augen durchbohrte.
»Ich weiß nicht, wie viel das in Erdenjahren ist.«
»Geschätzt?«, drängelte er.
»Tausende von Jahren wahrscheinlich.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich verliere immer den Überblick wegen der Jahre, die ich tiefgekühlt verbringe.«
Ian lehnte sich fassungslos zurück.
»Ganz schön alt«, sagte Jamie atemlos.
»Aber hier ganz konkret bin ich sogar jünger als du«, sagte ich leise zu ihm. »Noch nicht mal ein Jahr alt. Ich fühle mich ständig wie ein Kind.«
Jamies Mundwinkel zogen sich leicht nach oben. Der Gedanke reifer zu sein als ich, gefiel ihm.
»Wie verläuft der Alterungsprozess bei deiner Art?«, fragte Doc. »Wie ist die natürliche Lebensspanne?«
»Wir haben keine«, erklärte ich ihm. »Solange wir einen gesunden Wirt haben, können wir ewig leben.«
Ein leises Murmeln - ärgerlich? Erschrocken? Empört? Ich wusste es nicht - erhob sich in den Ecken der Höhle. Ich merkte, dass meine Antwort unklug gewesen war; ich konnte verstehen, was meine Worte für sie bedeuteten.
»Schön.« Das leise, wütende Wort kam aus Sharons Richtung, aber sie hatte sich nicht umgedreht.
Jamie drückte meine Hand, er sah in meinen Augen erneut den Wunsch zu fliehen. Diesmal machte ich mich sanft los.
»Ich habe keinen Hunger mehr«, flüsterte ich, obwohl mein Brot fast unberührt neben mir auf dem Tresen lag. Ich sprang herunter und flüchtete, wobei ich mich eng an der Wand hielt.
Jamie folgte mir dicht auf den Fersen. Er holte mich in der großen Gartenhöhle ein und reichte mir die Reste meines Brötchens.
»Das war wirklich irre interessant«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass irgendjemand besonders sauer ist.«
»Jeb hat Doc auf mich angesetzt, stimmt’s?«
»Du kannst gute Geschichten erzählen - sobald das alle wissen, werden sie sie hören wollen. Genau wie ich und Jeb.«
»Und was, wenn ich sie nicht erzählen will?«
Jamie runzelte die Stirn. »Na ja, ich nehme an, dann … solltest du es auch nicht tun. Aber ich hatte den Eindruck, als würde es dir Spaß machen, mir Geschichten zu erzählen.«
»Das ist was anderes. Du magst mich.« Ich hätte auch sagen können, Du willst mich nicht umbringen, aber damit hätte ich ihn nur aufgeregt.
»Sobald dich die Leute näher kennenlernen, werden sie dich alle mögen. Wie Ian und Doc.«
»Ian und Doc mögen mich nicht, Jamie. Sie sind bloß krankhaft neugierig.«
»Tun sie wohl.«
Ich stöhnte. Wir waren jetzt vor unserem Zimmer angelangt. Ich schob den Paravent zur Seite und ließ mich auf die Matratze fallen. Jamie setzte sich etwas vorsichtiger neben mich und schlang die Arme um seine Knie.
»Sei nicht böse«, bat er. »Jeb meint es nur gut.«
Ich stöhnte wieder.
»Es wird nicht so schlimm werden.«
»Doc wird das jetzt immer machen, wenn ich in der Küche bin, stimmt’s?«
Jamie nickte verlegen. »Oder Ian. Oder Jeb.«
»Oder du.«
»Wir alle wollen das wissen.«
Ich seufzte und drehte mich auf den Bauch. »Muss Jeb wirklich jedes Mal seinen Willen durchsetzen?«
Jamie dachte einen Augenblick nach und nickte dann. »So ziemlich, ja.«
Ich biss ein großes Stück Brot ab. Als ich fertig gekaut hatte, sagte ich: »Ich glaube, ich werde in Zukunft hier essen.«
»Ian wird dir morgen beim Unkrautjäten Fragen stellen. Nicht wegen Jeb - er macht es von sich aus.«
»Na prima!«
»Du kannst ganz schön sarkastisch sein. Ich dachte, die Parasiten - ich meine, die Seelen - mögen keinen schwarzen Humor. Nur den harmonischen Kram.«
»Sie würden hier drin schnell dazulernen, Kleiner.«
Jamie lachte und nahm dann meine Hand. »Du findest es hier nicht furchtbar, oder? Du bist doch nicht unglücklich?«
Seine großen, schokoladenbraunen Augen sahen besorgt aus.
Ich drückte seine Hand an mein Gesicht. »Mir geht es gut«, sagte ich und in diesem Augenblick war das die reine Wahrheit.
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Z urückgekehrt
O hne je offiziell zuzustimmen, wurde ich die Lehrerin, die Jeb sich gewünscht hatte.
Mein »Unterricht« war eine informelle Angelegenheit: Abends, nach dem Essen, beantwortete ich Fragen. Solange ich dazu bereit war, ließen Ian und Doc und Jeb mich tagsüber in Ruhe und ich konnte mich aufs Arbeiten konzentrieren. Wir kamen immer in der Küche zusammen; ich half gerne beim
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